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SCHLUSS
TAURIS oder Catterinas Entjungferung
Ein ahistorischer Roman von Pia Frauss
 

14    Retiarius vincit*


 
 
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Und auf diese Weise ging es weiter im Text. Nein, er — Don Raffael — habe niemals ernsthaft daran gedacht, sich von seinem Bruder loszusagen und auf sein Erbe zu verzichten. Er habe sich von seinem Unmut hinreißen lassen, Dinge zu äußern, die seinen Wünschen und Plänen vollkommen widersprachen. Diese Äußerungen dürften auch nicht dahingehend mißdeutet werden, daß er die fürstliche Politik als Ganzes ablehne. Er sei vielleicht mit einzelnen Maßnahmen nicht einverstanden und habe manches wohl auch falsch bewertet; aber in allen grundsätzlichen Fragen teile er Don Francescos Auffassung. Gewiß, er sei mehr denn je entschlossen, das Erbe anzunehmen und in Don Francescos Sinne weiterzuführen. Er verbürge sich dafür, daß er all jene Ziele verwirklichen wolle, die selbst zu verwirklichen Don Francesco nicht mehr vergönnt sei. Und er habe Don Francesco dafür zu danken, daß dieser ihm trotz aller begangenen Unbesonnenheiten sein Vertrauen nicht entziehe und ihn weiterhin als würdigen Nachfolger betrachte. In Zukunft wolle er unbedingt und mehr als bisher bestrebt sein, sich dieses Vertrauens würdig zu erweisen.

Das also war es gewesen. Kein melancholischer Abschied von der Welt, sondern ein häuslicher Triumph: die Entgegennahme einer feierlichen Unterwerfungserklärung des rebellischen Erben und zugleich dessen offizielle, endgültige Re-Inthronisation. Dabei klang der Dialog zwischen den Brüdern so steifleinen wie eine Bibelstunde, bei der die heiligsten Glaubenswahrheiten als lange eingeübter Lernstoff abgefragt und eilfertig heruntergehaspelt werden. Ganz ähnlich, dachte Catterina, mochte es wohl bei den Ketzerprozessen zugehen, über die sie in den Reiseberichten heimgekehrter Kaufleute gelesen hatte, wenn die Glaubensgemeinschaft bereit war, einen Abtrünnigen als reuiges Schäflein wieder aufzunehmen, und ihm die Gnade gewährte, seinem Irrglauben öffentlich abschwören zu dürfen. Und Catterina zweifelte sehr daran, daß hier mehr Freiwilligkeit im Spiel war als dort.

Aber das Drama um Don Francescos Versöhnungsbereitschaft und Don Raffaels Bußfertigkeit erreichte zuletzt noch einen Höhepunkt, mit dem selbst Catterina nicht gerechnet hatte. Nachdem Don Raffael ans Ende seiner Ergebenheitsbeteuerungen und Treuegelöbnisse gelangt war, streifte Don Francesco sich den Siegelring vom Finger und steckte ihn an die Hand seines Bruders, die ihm jetzt ohne erkennbaren Widerwillen zum Zeichen der Versöhnung gereicht wurde. "Von heute ab, verehrter Bruder," sagte er dabei, "könnt Ihr in jeder Weise, die Euch richtig und nötig scheint, von diesem Ring Gebrauch machen. Eure Entscheidungen werden fortan dasselbe Gewicht haben wie meine eigenen. Ich werde Euch in allen Fragen von Bedeutung zu Rate ziehen, und jedes Schriftstück, das ich unterschreibe, wird Euch zur Gegenzeichnung vorgelegt werden, bevor es meine Kanzlei verläßt. Wenn ich mehr tun könnte, Euch mein vollkommenes Vertrauen zu beweisen, würde ich es tun. Nur, verehrter Bruder, gönnt mir als Gegenleistung eine Gunst, um die ich Euch dringend bitte: vermeidet für die kurze Zeit, die ich noch zu leben habe, all jene Gefahren, denen Ihr Euch sonst so häufig auszusetzen pflegt, und befreit mich damit von einer Furcht, die schlimmer ist als Todesangst, und die mich während der letzten Jahre unablässig gequält hat — die Furcht, erleben zu müssen, wie mein Erbe vor mir stirbt."

Offenbar war Don Raffaels Vernunft diesem Appell ebensowenig gewachsen wie seine Selbstbeherrschung. Laut schluchzend küßte er die Hand seines Bruders, beteuerte seine Dankbarkeit und leistete unverzüglich, mit tränenerstickter Stimme, einen feierlichen Schwur, daß er, solange Don Francesco lebte, nicht wieder an einem Turnier oder einem Seegefecht teilnehmen, Horena nicht mehr betreten, keine öffentlichen Häuser mehr aufsuchen und nicht mehr ohne Eskorte ausgehen wolle.

Es war ein Augenblick allgemeiner Rührung. Soweit Catterina sie sehen konnte, zogen die hohen Herren ringsum samt und sonders weihevollschmerzliche Gesichter; die Hofdamen schnüffelten oder hielten sich — wie Laura Asturini — ihre Ärmelaufschläge vor die Augen; im Hintergrund schneuzten sich nacheinander mehrere der Anwesenden. Die geistlichen Herrn hatten die Hände gefaltet und blickten gen Himmel. Einer bewegte sogar lautlos die Lippen, als wolle er den göttlichen Segen auf diese Versöhnung herabbeten; ja, selbst in den Augen und Bärten der Sekretäre glaubte Catterina den Glanz von Tränen zu bemerken. In der Gewißheit, einem historischen Ereignis beizuwohnen, warf die ganze Versammlung sich in Positur, als solle sie noch in dieser Stunde auf einem Gedächtnisbild für die Nachwelt verewigt werden. Sie hätte der Phantasie eines Malers nur wenig zu tun übrig gelassen, und es wäre sicher ein schönes Gemälde geworden, fast wie ein Letztes Abendmahl, mit wirkungsvollen Hell-Dunkel-Kontrasten: die verstreuten Inseln von Kerzenlicht, das weißleuchtende Bett, ein wenig nach rechts aus dem Mittelpunkt gerückt, und die dunkelgekleideten Trauernden, die harmonisch gruppiert einen Kreis darum bildeten.

Lediglich Catterina wäre auf einem solchen Bild als störendes Element erschienen. Sie erinnerte sich zu gut an Don Raffaels Bekenntnisse in Rocca dei Marulani und in Alvisia, um die Vorgänge nicht haarsträubend widernatürlich zu finden, und deshalb verkörperte sie in dieser Versammlung, was Judas auf den alten Abendmahlsdarstellungen verkörpert, der allein von dem umfassenden wehmütigen Friedensglück ausgeschlossen bleibt. Freilich hätte sie selbst die Sachlage gerade im entgegengesetzten Sinn gedeutet: sie fühlte sich als einsamer Apostel der Wahrheit inmitten einer Schar von Heuchlern. Just in einem solchen Moment, wo Tränen angebracht, ja, sogar erwünscht waren, stand ihr keine einzige zur Verfügung. Hocherhobenen Hauptes und trockenen Auges blickte sie voll Verachtung, voll fassungslosem Zorn um sich. Ihre Trauer, soweit sie wirklich Trauer empfand, galt ausschließlich Don Raffael, der sich hier ohne Gegenwehr an Don Francescos Schreibtisch festbinden ließ, und der in dieser Stunde sich selbst verriet, wie er am vorhergehenden Abend seinen Freund Valentin Rascari verraten hatte.

Aber Catterina war eine verliebte Frau, und ihr Unmut konzentrierte sich deshalb schnell auf den Urheber dieser entwürdigenden Veranstaltung. Was immer Don Raffael an Unbegreiflichem tat und sagte: Catterina war rückhaltlos bereit, es als Ergebnis eines geheimen Zwangs zu bewerten, den Don Francesco auf ihn ausübte. Während des ganzen — belanglosen — Abschlusses der Zeremonie starrte sie den Fürsten zornerfüllt an. Sie gab sich keinerlei Mühe, ihren Abscheu zu verbergen, und so konnte es nicht ausbleiben, daß Don Francesco ihren finsteren Blick wahrnahm.

Dabei zeigte sich, daß er ein schlechter Schauspieler war. Daß Catterina sich von seinem sorgfältig inszenierten Drama nicht blenden ließ, kränkte ihn nicht; im Gegenteil, er wußte es als eine geistige Leistung zu würdigen, die sie aus dem untergeordneten Rang einer Mitwirkenden in den übergeordneten einer Zuschauerin erhob. Gerade das aber hatte ihm zu seiner vollkommenen Befriedigung noch gefehlt: ein Zuschauer, der imstande war, das ganze Ausmaß seines Erfolgs zu erkennen! Catterinas stumme Empörung amüsierte ihn jedenfalls so sehr, daß er aus der Rolle fiel. Für einen kurzen Moment bäumte sein Spott sich auf und warf die schlechtsitzende Maske des Leidens ab. Der Dulderblick wich aus seinen Augen, und seine Mundwinkel verzogen sich unbeherrschbar zu einem Lächeln. Aber es war nicht der böswillige, übellaunige Spott, den Catterina bisher an ihm gekannt hatte, sondern eine beinahe beschwingte, überlegene Heiterkeit, und Catterina hatte den Eindruck, daß er ihr mit ironischer Anerkennung zuzwinkerte wie einer heimlichen Komplizin. Nein, da konnte kein Zweifel bestehen: Don Francesco war glücklich, Don Francesco triumphierte, Don Francesco hatte gesiegt.

* Der lateinische Titel, zu deutsch "Der Netzwerfer siegt", bezieht sich auf eine Variante der römischen Gladiatorenkämpfe, bei der ein nur mit Netz, Dolch und Dreizack bewaffneter retiarius (< rete "Netz") ohne Helm und Schild gegen einen mit Helm, Schild und Schwert ausgerüsteten murmillo oder secutor antrat.


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TAURIS
Roman von Pia Frauss
14. Retiarius vincit/S