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MITTE
TAURIS oder Catterinas Entjungferung
Ein ahistorischer Roman von Pia Frauss
 

Finstere
  Nachtgedanken


(Auszug aus Kap. 14)


 
 
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Als man gar begann, die Kleider des Fürsten vorsichtig auf seinem Leib auseinanderzuschneiden, um eine fachgerechte Anbringung der Kompressen zu ermöglichen, entschied Catterina, daß ihre weitere Anwesenheit weder vonnöten noch von Nutzen sei. Sie war schon eine Weile ratlos herumgestanden, während sich ringsum nach und nach die Türen öffneten: an allen Eingängen des Speisezimmers hatten sich Diener und Angestellte versammelt, die verstört in den Raum starrten. Catterina stellte mit Erstaunen fest, daß der Speisesaal mehr Türen und der Fürst mehr Diener besaß, als sie je zuvor wahrgenommen hatte. Sie bemerkte aber auch, daß sie trotz des Menschenauflaufs weiterhin die einzige Frau im Raum blieb; denn ihre Hofdamen waren natürlich darüber erhaben, sich der gaffenden Menge anzuschließen.

Da es sich bei dem Vorfall scheinbar um eine reine Männersache handelte, ging Catterina endlich, ohne Don Raffael zu behelligen, und ohne daß er es bemerkte, in den Vorraum hinaus, wo ihre Hofdamen und die Soldaten der Wache warteten, und versetzte den befehlshabenden Offizier in Angst und Sorge, als sie ihm mitteilte, sie wolle sich in ihr Ankleidezimmer zurückziehen. Durfte er sie hinausbegleiten, ohne einen entsprechenden Befehl erhalten zu haben? Konnte er es wagen, Don Raffael jetzt um Anweisungen zu bitten? Offensichtlich war weder das eine noch das andere möglich. Verärgert darüber, daß sie abermals wie eine Gefangene behandelt wurde, kürzte Catterina den Entscheidungsprozeß ab, indem sie erklärte, sie werde den Weg eben allein — zu sagen, nur in Begleitung ihrer Hofdamen — zurücklegen, wenn der Offizier noch weiter zögerte. Das ließ sich natürlich erst recht nicht verantworten, und so war die Eskorte wohl oder übel gezwungen, Catterina zu folgen.

In dieser Nacht bekam Catterina Don Raffael nicht mehr zu Gesicht. Sie hatte es allerdings auch gar nicht erwartet. Dennoch fand sie lange keinen Schlaf; sie verbrachte eine Reihe von melancholischen Stunden allein in dem breiten Bett und quälte sich damit, darüber nachzugrübeln, wie gründlich sie jenes Ereignis in Rocca dei Marulani mißverstanden hatte, das ihre zärtlichen Gefühle für Don Raffael so entscheidend beflügelt hatte. Wenn er an jenem Abend für sie eingetreten war, dann war das lediglich ein Schachzug in dem Spiel gewesen, das er mit seinem Bruder spielte; und er hätte sie, wenn dieses verzwickte Spiel es erforderte, ebensogut bedenkenlos im Stich lassen können — so wie er jetzt Valentin Rascari im Stich ließ, den er erst als Werkzeug benützt, dann verraten und schließlich auf dem Altar seiner Freiheit geopfert hatte. Nein, das Problem war wohl nicht Bianca Barri, und es hatte wenig Zweck, sich ihretwegen den Kopf zu zerbrechen. Das Problem bestand darin, daß es offenbar nur zweierlei auf der Welt gab, was Don Raffael liebte. Das erste war seine Freiheit, und das zweite war Don Francesco. In dem Umstand, daß diese beiden Bestrebungen seines Herzens sich nicht miteinander vereinbaren ließen und sozusagen an den entgegengesetzten Enden desselben Stricks zogen, lag Don Raffaels ureigenste Hölle begründet. Aber er würde dieser Hölle jederzeit jedes Glück aufopfern, das ihm von irgendeiner anderen Seite zuteil werden konnte. Menschen wie Valentin Rascari, Bianca Barri oder sie selbst, mochten sie noch so überzeugend als Freund, Geliebte oder Ehefrau figurieren, blieben doch auf undankbare Nebenrollen beschränkt und würden vom Brett geworfen werden, sobald der Spielverlauf gegen sie entschied.

Die Erklärung, die Catterina sich da zurechtlegte, war ebenso kraß wie unzutreffend. Aber sie zeigte ihr die Dinge im scharfen Licht der Hoffnungslosigkeit und ließ sie umso deutlicher erkennen, daß sie bereits unwiderruflich gewählt hatte. Auch die vernünftige Einsicht, daß sie ihre Wahl auf der Basis falscher Voraussetzungen getroffen hatte, vermochte ihre Gefühle nicht aufzuheben. Und es war keine tröstliche Erkenntnis, sich in einer Nußschale auf sturmbewegter See wiederzufinden, eingeschlossen von Finsternis, ohne Ruder und Steuer, nicht zu wissen, wohin die Reise ging und an welcher unwirtlichen Küste sich der unausbleibliche Schiffbruch ereignen würde, und sich obendrein noch vorwerfen zu müssen, daß man — auf eine Vorspiegelung günstigen Wetters vertrauend — in einem Anfall von Leichtsinn das Schiff eigenhändig vom Ufer fortgestoßen hatte. Denn es war gewiß ihre eigene Schuld. Don Raffael hatte nie versucht, sie zu täuschen. Alles, was sie jetzt so qualvoll begriff, hatte er ihr längst detailliert und in rückhaltloser Ehrlichkeit auseinandergesetzt. Er war nicht dafür verantwortlich, daß sie es nicht richtig und nicht rechtzeitig verstanden hatte.

Zudem: selbst im Licht ihrer neuesten Erkenntnisse präsentierte Don Raffael sich immer noch als liebenswerter Mensch. Er hatte sie bisher stets freundlich, großzügig, rücksichtsvoll, ja sogar zärtlich behandelt, weit über das hinaus, wozu er verpflichtet war — und wozu war er eigentlich verpflichtet? Wenn dies die Brosamen waren, die bei ihm unter den Tisch fielen, dann waren schon diese allein reichhaltiger als das, was bei den meisten anderen Männern als Hauptmahlzeit zusammenkommen mochte, und sie hatte lediglich den Fehler begangen, für eine Werbung zu halten, was bei jedem anderen Mann wirklich eine Werbung gewesen wäre.

Das Ende mit Schrecken konnte freilich vor der Tür stehen. Was würde sein, wenn der Fürst die Nacht nicht überlebte? Wenn er aber am Leben blieb, würde er dann seine Maßnahmen gegen Valentin Rascari widerrufen? Wenn er es nun nicht tat? Und nachdem Catterina eine Weile beim Gedanken an Don Francesco geschaudert hatte — er war vielleicht schon tot oder gerade im Begriff zu sterben —, schauderte sie zuletzt noch ein wenig beim Gedanken an den Kaufmann, der zur Stunde wohl friedlich schlafend in seinem Bett lag und nicht einmal davon träumte, welch dunkle Wolken sich über seinem Kopf zusammenzogen. Sie teilte ihr Mitleid gerecht zwischen Verfolger und Verfolgtem auf; gerecht, das heißt: für Don Francesco, der derzeit in der schlimmeren Lage war, fiel etwas mehr davon ab.

Dennoch, ihr letzter Gedanke, bevor sie einschlief, galt Valentin Rascari. Sie hatte die Hochachtung nicht vergessen, mit der er sie behandelt hatte, obwohl sie damals doch nichts weiter gewesen war als die anmaßende Kantorstochter, die jedermann verabscheute. Er war gewiß kein sonderlich anziehender Mensch. Es gereichte ihm nicht zum Vorteil, daß er nach Kaufmannssitte einen Bart trug, denn die Natur war kaufmännisch sparsam zu Werke gegangen, als sie ihn mit dieser Manneszier ausstattete; und sein mageres Gesicht mit den vorspringenden Zähnen und der straff gespannten, dünnen Haut erinnerte beim ersten Anblick unangenehm an einen Totenschädel; aber trotz seiner Magerkeit wirkte er weder krank wie Don Francesco noch asketisch wie der Philosoph, sondern energisch, kämpferisch, zäh und unternehmungslustig. Und er hatte ein Paar sehr helle, durchdringende, wachsame Augen, die deutlich verkündeten, daß er sich nicht leicht hinters Licht führen ließ. Daß sie vor diesem strengen Blick Gnade gefunden hatte, schmeichelte Catterina nicht wenig. Zusätzliche Sympathien weckte die Befürchtung, daß sie, was Don Raffael anbelangte, bald genug in die gleiche Lage geraten konnte wie Rascari; und so schlief sie ein mit einem Gefühl des Unwillens gegen Don Raffael, das sich nicht auf den wohl unvermeidlichen Wortbruch gründete, sondern darauf, daß er einen solchen Freund zum Dank für einen erwiesenen Dienst der Willkür seines Bruders auslieferte.


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TAURIS
Roman von Pia Frauss
14. Retiarius vincit M