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KAPITEL ANFANG |
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15 Die Multiplikation |
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Don Francescos Verhältnis zu seiner Krankheit glich dem eines Kettenhundes zu einer sich stetig verkürzenden Kette. Je enger sein Handlungsspielraum wurde, desto emsiger war er darin tätig, und was er an körperlichen Kräften einbüßte, machte er durch geistige Anstrengung wett. Seit dem Ausbruch der Krankheit hatte sein tägliches Arbeitspensum sich keineswegs verringert. Er hatte den Überblick über seine Geschäfte nie verloren und alle seine Ziele unbeirrt weiterverfolgt. Er empfand zwar im Grunde keine Angst vor dem Tod oder verschwendete jedenfalls weder Zeit noch Kräfte darauf, über das Unvermeidliche nachzugrübeln. Aber an der Vorstellung, bald sterben zu müssen, erschreckte ihn doch die Gewißheit, daß dieses vorzeitige Ende ihn daran hindern würde, seine Pläne vollständig in die Tat umzusetzen. Und wirklich, Don Francesco trug ein höchst ehrgeiziges Zukunftsprojekt zu Grabe! Es übertraf an Kühnheit alle Vorhaben seiner Mutter, deren Bestrebungen sich stets auf das Wirtschaftsleben beschränkt und nie einem anderen Zweck gedient hatten als dem persönlichen Machtgewinn und der persönlichen Bereicherung. Don Francesco hingegen, der einem höheren Begriff von politischen Zusammenhängen und Erfordernissen huldigte, wollte nicht an einzelnen Symptomen herumkurieren, sondern das ganze — seiner Ansicht nach überlebte — System durch ein neues ersetzen. In seiner Jugend hatte er unter der Anleitung des Astorre da Chiaparvo mit großer Begeisterung Platon gelesen. Ursprünglich hatte er deshalb sogar von einer Gelehrtenrepublik geträumt, in der ein Parlament weiser alter Männer eben die Gesetze erließ, die er für nötig erachtete; und schon an jenem Tag, als er in sein Amt eingeführt wurde und dem König unverbrüchliche Treue schwor, war er fest entschlossen gewesen, mit allen verfügbaren Mitteln für die Abschaffung des Königtums zu kämpfen. Don Francescos Bewunderung für den blauäugigen antiken Philosophen war freilich schon während der ersten Monate seiner Amtsführung einen unaufhaltsamen Schwächetod gestorben und zuletzt als mitleidige Verachtung wiederauferstanden. Noch nicht einmal zwanzig Jahre alt, schockierte er seinen einstigen Lehrer mit der Behauptung, das einzige, was man an Nützlichem aus den Schriften Platons lernen könne, sei eine geradezu unendliche Vielfalt zustimmender Antwortsfloskeln. Aber wenn die politische Praxis ihn darüber belehrte, welch höchst gefährlicher Ratgeber der Idealismus war, so überzeugte sie ihn doch auf der anderen Seite auch von der unabweisbaren Notwendigkeit einer radikalen Staatsreform. Don Francesco endete folglich, wie er begonnen hatte, als Republikaner; selbst an seiner Zielvorstellung eines Gelehrtenparlaments hielt er auch nach achtzehn Jahren noch fest. Gewiß, Don Francesco war ein entarteter Sproß seiner Familie und seiner Kaste. Aber das Leben der Adligen war ihm von jeher fremd gewesen, und da man ihn seine ganze Kindheit hindurch mit dem fruchtlosen Versuch gequält hatte, ihn für ein solches Leben zu erziehen, hatte er es frühzeitig hassen gelernt. Jahrelang hatte er seine Fechtlehrer zur Verzweiflung getrieben durch planloses Herumfuchteln mit einer Waffe, die er so locker hielt, als befürchte er, sie könne ihn jeden Moment in die Handfläche brennen; er war stets zu Pferde gesessen wie ein Mehlsack und bei den simpelsten Schreittänzen über seine eigenen Füße gestolpert. Im Verlauf von zeremoniellen Veranstaltungen, die länger als eine halbe Stunde dauerten, überkam ihn unweigerlich der folternde Drang zum Wasserlassen; ein einziges Mal in seinem Leben, als er sechzehn Jahre alt war, hatte er zwangsweise, auf Anordnung seines Vaters, an einer Jagd teilgenommen, von der er sich beizeiten zurückzog, weil ihm übel wurde. Aber sein höchst stabiles Selbstbewußtsein war durch Mißgeschicke dieser Art niemals erschüttert worden. Ein ums andere Mal hatte es ihm bestätigt, daß nicht er zu tadeln sei, weil er so sinn- und nutzlose Dinge nicht zu lernen oder zu ertragen vermochte, sondern daß vielmehr all jene erbärmliche Halbirre sein mußten, die dergleichen sogar zu ihrem vornehmsten Zeitvertreib erhoben. Don Francescos bewunderter Lehrer Astorre da Chiaparvo hatte freilich weit schlimmere Vorwürfe gegen die Adligen erhoben. Denn meist ließen sie es bei solch vergleichsweise harmlosen Beschäftigungen nicht bewenden, sondern beanspruchten darüberhinaus alle führenden Ämter in Armee, Justiz und Verwaltung: Posten, für die sie nicht kompetent waren, die sie Tüchtigeren vorenthielten, und die sie hemmungslos dazu benutzten, sich auf Kosten des Allgemeinwohls zu bereichern. Lange bevor Don Francesco sein Amt antrat, war es üblich gewesen, daß Gerichtsurteile und staatliche Bauaufträge an den Meistbietenden verkauft wurden, daß Justizbeamte durch Erpressung und Verwaltungsbeamte durch Bestechlichkeit riesige Vermögen erwarben, daß Wirte und Gewerbetreibende regelmäßig sogenannte Schutzgelder an den jeweiligen Stadthauptmann abführten, um von Plünderungen durch die schlechtbesoldeten königlichen Soldaten verschont zu bleiben, und daß Steuergelder auf rätselhafte Weise in den Ämtern versickerten. Und vor allem hatten die Amtsprivilegien es dem Adel ermöglicht, durch den illegalen Einsatz legaler Mittel einen Großteil des Bodens zurückzuerobern, der bei der Landreform von 1230 enteignet worden war. Die Mehrheit der Landbevölkerung lebte deshalb inzwischen in Pachtverhältnissen, die sich nur noch nominell von der 1230 aufgehobenen Leibeigenschaft unterschieden. Aber obwohl Don Francesco durchaus fähig war, solche Zustände als Mißstände zu erkennen, erblickte er darin weder einen Grund noch eine Rechtfertigung für einen Umsturz. Dergleichen störte ihn nur in Fällen, wo seine eigenen Interessen geschädigt wurden, und in solchen Fällen wußte er sich auf weniger spektakuläre Weise zu helfen. Außerdem war er — lange bevor sein Bruder zu der gleichen Einsicht kam — zutiefst davon überzeugt, daß jedwedes staatliche Gebilde so natürlich eine Adelskaste hervorbringt, wie eine Henne Eier legt. Was immer die Staatsphilosophen an hochtrabenden Ideen verkünden mochten, diente bestenfalls dazu, diese Wahrheit zu verschleiern: es war der alleinige Zweck eines Staates, zu gewährleisten, daß etwa fünfundneunzig Prozent seiner Bevölkerung sich bescheiden bis kümmerlich durchs Leben schlugen, damit die übrigen fünf Prozent sich an dem dabei erwirtschafteten Überfluß ebenso unmäßig wie rechtmäßig bereichern konnten, und man durfte dann sagen, daß ein Staat seine Aufgabe fehlerlos erfüllte, wenn die Masse der Übervorteilten diesen Zustand als naturgegeben oder gottgewollt hinnahm oder sogar davon zu profitieren glaubte. Andererseits war Don Francesco aber auch davon überzeugt, daß jeder Staat notwendig in Gefahr geriet, von inneren oder äußeren Feinden überwältigt zu werden, sobald die Führungsschicht sich unverrückbar etabliert hatte und aus dem Leistungsadel Geburtsadel wurde. Früher oder später mußte die alte Elite gewaltsam von einer neuen verdrängt werden, die allerdings, sobald wieder Ruhe einkehrte, mit Sicherheit in die gleichen Fehler verfallen würde. Das einzige Mittel, diese verhängnisvolle Periodizität wenigstens zeitweise zu unterbrechen, waren ernstgemeinte Reformen innerhalb eines bestehenden Systems: ein gefährlicher und dornenreicher, aber keinesfalls ganz hoffnungsloser Weg; hatte Don Francescos Mutter das nicht hinreichend bewiesen? Sie hatte die Geschäfte des Fürsten von Orsino in einem völlig desolaten Zustand übernommen und diesen Augiasstall binnen weniger Jahre so gründlich ausgemistet, daß Don Francesco beim Antritt seines Erbes nicht viel mehr zu tun übriggeblieben war, als die barbarischen Methoden zu zivilisieren, mit denen seine Mutter ihre Untergebenen zur integren Pflichterfüllung zwang. |
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TAURIS Roman von Pia Frauss 15. Mord und Totschlag/A |