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MITTE
TAURIS oder Catterinas Entjungferung
Ein ahistorischer Roman von Pia Frauss
 

Streit am
Weihnachtstag


(Auszug aus Kap. 23)


 
 
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Catterina, die fünfmal mit dem Stadthauptmann getanzt hatte, ohne ihr erstes Urteil zu korrigieren, ahnte nichts von seiner Beliebtheit in Corvalla und hätte auch nicht daran glauben wollen, wenn man ihr davon erzählt hätte. Sie war schon verblüfft, als sie am Weihnachtstag, nach dem Mittagessen, erfuhr, daß es ihm gelungen war, sich zumindest das Wohlwollen einer einzelnen Person zu erschleichen. Es begann damit, daß Don Raffael seinen Teller beiseiteschob, sobald der besonders umfangreiche letzte Gang aufgetragen war, und sagte: "Verzeiht, Madonna, vor dem Gottesdienst muß ich noch mit Don Francesco sprechen! Aber ich bitte Euch, eßt ruhig weiter, wenn ich jetzt aufbreche. Ich möchte Eure Damen keinesfalls daran hindern, das Schicksal zu beeinflussen, und hoffe, daß auch Ihr nicht grausam sein wollt."

Catterina lachte und versicherte, so grausam sei sie nicht; denn offenkundig spielte er auf den perversen Aberglauben an, der sie in den vergangenen Jahren stets veranlaßt hatte, beim Weihnachtsmittagessen kaum ihren Hunger zu stillen und demonstrativ sofort nach ihrem schnell gesättigten Vater aufzuspringen — jenen Aberglauben, der behauptete, dasjenige junge Mädchen, welches als letzte Person einer Tischrunde vom Weihnachtsmahl aufstand, werde sich im Folgejahr als verheiratete Frau dazu niedersetzen. Und angeblich wirkte das Omen nicht, wenn das Mädchen einfach nur sitzenblieb: es mußte unentwegt weiteressen. Inzwischen war das nicht mehr nur ein Aberglauben, sondern ein Brauch, dessen Vorschriften in vielen Familien strikt eingehalten wurden. Pervers war er nicht nur deshalb, weil er junge Mädchen zur Sünde der Völlerei verleitete und ihrer Familie den fragwürdigen Spaß verschaffte, sie anzufeuern, während sie sich bis zum Erbrechen überaßen, sondern auch, weil er sie barbarisch lange an einer Mittagstafel festhielt, hinter der vor Ungeduld fiebernde Diener auf ihren Lohn und ihren Urlaub warteten.

Das letztere freilich war im Augenblick kein schlimmer Mißstand; solange die Tür wegen Don Raffaels Abwesenheit verschlossen blieb, konnte das Geschirr ohnehin nicht abgeräumt werden. Und da Catterina nun nichts mehr demonstrieren mußte, war sie doch gespannt auf das Benehmen ihrer Hofdamen. Sie kündigte also an, daß man es heute mit dem Ende des Mittagsmahls ebenso halten würde wie in anderen Häusern auch: wer fertig gegessen habe, müsse den Tisch verlassen, wer weiteressen wolle, dürfe sitzen bleiben.

Es geschah, was geschehen mußte. Die Gräfin von Pontepiaro, ohnehin eine ziemlich dürre, appetitlose Person, erhob sich zuerst, fast unmittelbar gefolgt von Onorata Lasterra. Auch Catterina verließ bald den Tisch, und danach sah es eine Weile so aus, als wolle Bianca Barri sich an dem Wettessen beteiligen; aber sie vertrug schon dann große Portionen, wenn sie nur für sich selbst aß, und benötigte während der Stillzeit erstaunliche Mengen an Nahrung. Trotzdem blieben Maria Morosini und Claudia Asturini am Tisch zurück, nachdem sie ihn gesättigt verlassen hatte, und kauten verzweifelt schnaufend auf den kleinen Bissen herum, die sie sich zunehmend zögerlich in den Mund schoben. Es war ebenso quälend anzusehen, wie es sich anfühlen mußte, und Catterina, die Gleiches schon zu jener Zeit miterlebt hatte, wo ihre beiden Schwestern auf eine bevorstehende Heirat hofften, begann eben im stillen darüber zu philosophieren, daß Dummheit verbindet, was Standesunterschiede trennen, als die Gräfin plötzlich halb höhnisch, halb mitleidig sagte: "Verehrte Donna Maria, wollt Ihr Euch wirklich ohne Not in eine gestopfte Weihnachtsgans verwandeln, nur um zu beweisen, daß das dumme Gerede wahr ist? Ihr werdet nächstes Jahr heiraten, so oder so; das weiß doch jeder."

Maria Morosini erwiderte mit vollem Mund, sie jedenfalls wisse nicht, wovon die Gräfin spreche; aber sie errötete dabei, so daß der Protest wenig glaubhaft wirkte.

"Ich meine, daß jemand wie der hiesige Stadthauptmann, wenn er, wo immer er Euch begegnet, stundenlang neben Euch in einer Fensternische sitzt, nur Heirat im Sinn haben kann und nichts sonst," erläuterte die Gräfin unbarmherzig, und in einer wahren Eruption von Bosheit setzte sie hinzu: "Oder waren das vielleicht Gespräche von Frau zu Frau?"

Das entschied den Wettbewerb. Während ihre Konkurrentin stumm glotzend weiterwürgte — und man wußte nicht recht, traten ihr die Augen vor Überraschung aus den Höhlen oder nur deshalb, weil sie dem Platzen nahe war —, sprang Maria Morosini so heftig auf, daß sie ihren Stuhl dabei umwarf, und spuckte fast den letzten Bissen aus, als sie sehr undamenhaft schrie: "Ihr seid eine widerliche alte Vettel!"

"Nun, nun," sagte Bianca Barri beschwichtigend. Aber die Gräfin ließ sich nicht beirren. "Es wird Zeit, daß Ihr lernt, solche Bemerkungen ruhig hinzunehmen, verehrte Donna Maria," spottete sie, "wenn Ihr den Herrn wirklich heiratet, werdet Ihr sie noch von ganz anderen Leuten zu hören bekommen." Kein Zweifel, die Stunde der Rache für all die versteckten Garnknäuel hatte geschlagen.

"Verheiratet oder nicht, ich werde solche Bemerkungen von niemand hinnehmen, und am allerwenigsten von Euch!" verkündete Maria Morosini, keuchend vor Zorn und Übersättigung. "Ihr habt es gerade nötig, über andere Leute herzuziehen! Ihr wißt wohl nicht, was man sich von Euch erzählt!"

"Ich habe mir nichts vorzuwerfen," gab die Gräfin hochnäsig zurück, "und immerhin habe ich niemand in den Selbstmord getrieben."

"Jetzt reicht es aber," sagte Bianca Barri, während sie ihre Leibesfülle imperativ zwischen die Gräfin und die zornentbrannt losstürzende Maria Morosini schob. Sie fing die letztere in ihren Armen auf und tätschelte ihr beruhigend den Rücken. "Was fällt Euch ein, verehrte Donna Letizia, dem armen Kind solche Flausen in den Kopf zu setzen? Ihr wißt so gut wie alle Welt, daß der junge Mann einen Vater hat, der hoch hinauswill."

"Jung —!" gab die Gräfin mit verächtlich geschürzten Lippen zurück. "Wenn ich mich nicht sehr täusche, ist der Stadthauptmann schon sechsundzwanzig Jahre alt! Vermutlich hat er allmählich die Nase voll von den Herzogstöchtern, die ihn nicht wollen, und sieht sich nach einer Frau um, die ihn für eine gute Partie hält. Und verlaßt Euch darauf, unsere liebe Donna Maria würde ihn nicht so warm verteidigen, wenn sie das nicht täte."

"Wie auch immer —!" sagte Bianca Barri. "Über solche Dinge redet man anstandshalber erst, wenn sie abgemacht und bekanntgegeben sind. Vorläufig habt Ihr nicht den geringsten Grund, das arme Kind so zu reizen." Sie warf dabei einen Blick auf Catterina, der sehr deutlich fragte, warum sie als Hausherrin nicht selbst eingriff, um den Streit zu schlichten.

Aber Catterina wußte nicht recht, wie man eine Gräfin zum Schweigen bringt, und war außerdem bisher zu verdutzt gewesen, um sich zu äußern. "Stimmt das?" fragte sie jetzt. "Verehrte Donna Maria, hat der Stadthauptmann wirklich mit Euch geredet? Ja, um Himmelswillen, worüber denn?"

Oh! über alles mögliche. Über Mertola, über gemeinsame Bekannte; Hofklatsch, Wetter, Theateraufführungen: offenbar war keines der verwendbaren Themen ausgelassen worden. Mitunter habe er auch mit ihr gescherzt, gab Maria Morosini errötend zu, und sie habe ihn stets sehr unterhaltsam gefunden; aber, das könne sie beschwören, mit keinem Wort und keiner Geste sei er ihr nahegetreten. Immerhin kenne sie ihn jetzt gut genug, um sicher zu sein, daß er besser sei als die Person, die ein Haufen Verleumder aus ihm machen wolle, und wie das zugehe, könne man ja daran sehen, daß die Lästerzungen aus ein paar kurzen Unterhaltungen schon auf eine bevorstehende Hochzeit schlossen!

"Nun also," sagte Catterina, "dann wollen wir hoffen, daß die Sache wirklich so harmlos ist, wie Ihr meint, und Ihr, verehrte Donna Letizia, werdet sie in Zukunft schon deshalb nicht mehr erwähnen, weil ich es wünsche." Sie sah sich unwillkürlich im Zimmer um, auf der Suche nach dem Themenwechsel, der ihr angebracht schien, und entdeckte das Passende, als sie über ihre Schulter blickte. "Aber, verehrte Donna Claudia! Ihr müßt doch jetzt nicht mehr weiteressen! Es kann ja wohl nicht sein, daß Ihr noch nicht satt seid — und daß Ihr gewonnen habt, steht längst fest!"

"Satt — ja," gab Laura Asturinis Stieftochter kauend zu, "satt bin ich schon. Aber ich dachte, ich dürfte heute so lange essen, wie ich will."

Das war in der Tat ein seltsames Verhalten, und Claudia Asturini war nicht imstande, es zu erklären — schon deshalb, weil sie bis zu Don Raffaels Wiederkunft zwar langsam, aber stetig weiteraß. Dennoch fand Catterina den Stadthauptmann noch viel seltsamer. Während des Gottesdienstes im Dom grübelte sie fast ununterbrochen über den unterhaltsamen Giftmörder nach, der sie selbst kaum eines Wortes würdigte, dafür aber mit ihrer Hofdame schäkerte, und kam zu der Überzeugung, daß er Böses im Schilde führte; ein Unglück, sogar wenn es ausschließlich Maria Morosini betraf. Denn das junge Mädchen war ihr nach Bianca Barri die liebste unter ihren Hofdamen: ein argloses, gutherziges, ungekünsteltes, begeisterungsfähiges Ding ohne viel Lebenserfahrung, wie geschaffen dafür, sich mit ein paar süßen Worten einfangen zu lassen! Catterina beschloß, die Sache beim Zubettgehen mit Don Raffael zu besprechen; er würde wissen, was zu tun war.


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TAURIS
Roman von Pia Frauss
23. Das Damenopfer M