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TAURIS oder Catterinas Entjungferung
Ein ahistorischer Roman von Pia Frauss
 

23    Das
               Damenopfer


 
 
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Weihnachten war in Tauris kein Fest glitzernder Bäume und glänzender Kinderaugen, sondern vor allem der wichtigste Termin des Arbeitsjahres. Zu diesem Datum endeten landauf landab die Dienstverhältnisse — gewerbliche schon am Vorabend, da die Schreibstuben und Werkstätten am Feiertag geschlossen blieben, häusliche dagegen erst am Nachmittag des 25. Dezember, wenn das Geschirr von der Mittagstafel abgetragen, gewaschen und aufgeräumt war. Danach fand so etwas wie eine Bescherung statt: die Dienstboten, bleibende ebenso wie scheidende, erhielten ihren Jahreslohn — sofern die Herrschaft solvent war — und im allgemeinen obendrein ein Geschenk. Auf das Geschenk bestand zwar kein Anrecht, und es fiel je nach Vermögensverhältnissen, Freigebigkeit und Zufriedenheit der Brotgeber recht unterschiedlich aus; aber ganz verweigert wurde es selten. Denn aufgebrachte Dienstboten waren zu Racheakten fähig, und so mancher sparsame Hausvater war schon am Morgen nach Weihnachten in einem Haufen Unrat gestanden, der ihm beim Öffnen der Haustür entgegenschwappte. Mit solchen Streichen mußte man selbst in Valanta rechnen, obwohl sie dort durch Sauberkeit und Straßenbeleuchtung erschwert wurden; in Corvalla, wo man weder das eine noch das andere pflegte, waren sie fast unvermeidlich. Und es konnte dem knausrigen Hausherrn sogar zustoßen, daß er den Schmutz eigenhändig wegkarren mußte: denn neu verpflichtete Dienstboten traten ihren Dienst erst am Neujahrsmorgen an, und dauerhaft beschäftigte verlangten in der Regel einen Extralohn, bevor sie auch nur kurzfristig den Urlaub unterbrachen, der ihnen gesetzeshalber zwischen Weihnachten und Neujahr garantiert war. Nur Reiche und Mächtige — wie etwa der Fürst von Orsino — fanden es während der fraglichen Zeitspanne nicht schwierig, sich bedienen zu lassen.

Der generelle Weihnachtsurlaub hatte eigentlich den Zweck, Familienbesuche oder Ortswechsel zu ermöglichen. Viele Dienstboten nutzten ihn auch in diesem Sinne; aber die große Anzahl derjenigen, die weder das eine noch das andere vorhatten, strebte gleichfalls auf die Straße und war nicht minder begierig, die spärlichen Tage der Freiheit gründlich auszukosten — ein Bedürfnis, dem landesweit durch Volksfeste in jeder Groß- und Kleinstadt entsprochen wurde. Früher war es sogar üblich gewesen, während dieser Tage alle Herd- und Kaminfeuer ausgehen zu lassen. So weit trieb man es jetzt zwar nur noch in wenigen Häusern; aber immerhin hatte sich die Sitte gehalten, zwischen dem Weihnachtsabend und dem Neujahrsmorgen nicht zu kochen. Deshalb war die Vorweihnachtszeit in fast allen Küchen des Landes eine Periode hektischer Zurüstungen: die Beschaffung und Konservierung der nötigen Lebensmittel hielt Hausfrauen und Gesinde wochenlang in Atem. Da wurden Wintergemüse, Eier und Fisch in Essig, teurem Öl oder billigerer Salzlake eingelegt, Gänse, Enten und Schweinemett eingekocht, verschiedene Biersorten gebraut und Unmengen von harten Brotfladen hergestellt, die sich im nie erkaltenden Backofen mit den beliebten Weihnachtskuchen aus getrockneten Früchten, Nüssen, Rinderfett, Honig, Branntwein und Gewürzen abwechselten. Kurz vor Weihnachten gab man das Fleisch in Pökellake, das zu Neujahr verspeist werden sollte, oder man brachte ein großes Stück Rind oder Wild zum Abhängen in den Keller; und wer die Würste, Räucherkäse und getrockneten Schinken nicht vom eigenen Dachboden holen konnte, kaufte sie jetzt beim Händler. In einer großen Stadt wie Corvalla führten solche Vorbereitungen dazu, daß den ganzen Dezember hindurch täglich — selbst sonntags — Markttag war; erst am Weihnachtsfeiertag verschwanden die Karren und Tische voll Lebensmitteln aus den Straßen.

Das hieß jedoch nicht, daß die Marktplätze nun verödeten. Im Gegenteil, auch zu Weihnachten fand ein vielbesuchter Markt statt, der nur den Auftakt bildete für den Trubel, welcher danach losbrechen sollte. Jetzt waren es die Holzschnitzer und Maskenhändler, die von überallher in die Städte pilgerten, um ihre Ware auszustellen und innerhalb weniger Tage die Arbeit eines ganzen Jahres gewinnbringend loszuschlagen. Der Festtag blieb ihnen vorbehalten; aber schon am folgenden Morgen würden sich die Würzweinbereiter zu ihnen gesellen, die Maronenröster und Ochsenfleischbrater, die Verkäufer von gebrannten Mandeln, Hüten, Kopftüchern, Spitzen, Glasperlen und all jenem Tand, der nur dazu taugte, hart arbeitenden Leuten ihren sauer verdienten Jahreslohn aus der Tasche zu ziehen. Fahrende Musikanten und Akrobaten würden die Städte in Scharen heimsuchen, darunter sogar Lautenspieler und Tänzer aus Noya Terea, die sich um diese Jahreszeit bis nach Horena hinabwagten; und selbst in den Kleinstädten würden all jene Straßen bis spät in die Nacht hinein beleuchtet sein, in denen gefeilscht, getrunken, geschäkert, getanzt, gegrölt und früher oder später unweigerlich gerauft wurde. Selbstverständlich fanden sich zu diesen Volksfesten nicht nur Dienstboten ein, sondern ein Großteil des sogenannten niederen Volks und folglich auch die Bewohner umliegender Dörfer, seien es Bauern, Fischer, Handwerker oder bloß Tagelöhner. Und nicht nur die Händler würden bei dem allgemeinen Andrang Gewinn machen: eine Vielzahl von Messerstechereien pflegte die königlichen Investigatoren zu bereichern, ein großer Bedarf an billigen Nachtlagern kam den Besitzern von Scheunen und leeren Gebäuden zugute, und neun Monate später würden sogar die Hebammen durch einen spürbaren Arbeitszuwachs von diesen Saturnalien profitieren. Am letzten Nachmittag des Jahres, wenn die Straßen sich leerten und das wilde Treiben in einen großen Gesindemarkt mündete, wo Raufbolde und Frischgeschwängerte sich wieder in lammfromme Handwerksgesellen und kreuzbrave Dienstmägde verwandelten, wagten allenthalben auch die Stadtväter mit aufkeimender Freude an die Tage des Geldzählens zu denken, die nun vor ihnen lagen; denn natürlich nahm man die Gefahr von Feuersbrünsten und Volksaufständen nur wegen der stadtsäckelfüllenden Marktgebühren auf sich.

Wenn während dieser Tage ein Brand ausbrach oder eine Schlägerei sich ausweitete, war die Katastrophe ebenso unvermeidlich wie unaufhaltbar. Es wurde zwar selten so kalt, daß das Wasser in den Zisternen einfror — dennoch: in einer von Betrunkenen verstopften Straße ließ sich kein Feuer rechtzeitig löschen, aus einer Stadt voll Betrunkener konnte man nicht eilig flüchten, und eine betrunkene Menschenmasse, die in Panik oder Wut drauflosstürmte, würde alles niedertrampeln, was ihr vor die Füße kam. Fraglos, Don Francesco bewies einigen Mut, als er beschloß, gerade jene kritische Zeit in Corvalla zu verbringen, in der ängstliche Patrizier sich trotz des Winters auf ihre Landgüter verzogen. Bei näherer Betrachtung war sein Heldentum freilich nicht gar so bewundernswert. Beschäftigt damit, Volkserhebungen zu planen, konnte er sich nicht vorstellen, daß ein derartiges Ereignis eintrat, wenn er es nicht geplant hatte. Im übrigen hatte die Festung von Corvalla schon vier Jahrhunderte überdauert; sie hatte vielen Stürmen und mehreren Bränden getrotzt und war niemals von einem rasenden Mob berannt worden; da durfte man wohl hoffen, daß sie noch ein paar Wochen länger stehen würde. Kurz, Don Francesco nahm die Schreckensvisionen nicht ernst, welche der Magistrat an die Wand malte; sie hatten sich ja auch schon seine ganze Amtszeit hindurch als leeres Geschwätz erwiesen. Immerhin hatte er den alljährlich erneuerten Bitten erstmals nachgegeben und eine größere Menge fürstlicher Soldaten nach Corvalla beordert — freilich keine, die er aus Horena abzog, denn dort, wenn überhaupt, schien ihm die Furcht vor Unruhen gerechtfertigt.


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TAURIS
Roman von Pia Frauss
23. Das Damenopfer/A