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MITTE
TAURIS oder Catterinas Entjungferung
Ein ahistorischer Roman von Pia Frauss
 

Der
   Unbegreifliche


(Auszug aus Kap. 21)


 
 
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Die Welt, in der Don Raffael lebte, hatte im Grunde etwas ungemein Provinzielles. Man kannte die meisten Leute, mit denen man es im Lauf der Jahrzehnte zu tun bekam: ihre Eltern, ihre Verhältnisse, ihre Ausbildung, ihr Platz im Leben, das war alles kein Geheimnis. Daraus ergab sich ein gewisses Recht, keine Überraschungen von seinen Mitmenschen zu erwarten, und Don Raffael wurde sich zum zweiten Mal an ein- und demselben Nachmittag bewußt, daß er dieses Recht bisher viel zu selbstverständlich in Anspruch genommen hatte. Er saß lange stumm da und versuchte sich den Sohn des obersten königlichen Baurats vorzustellen, wie er auf einen Bären einstach, der ihn in seiner Umklammerung zu zerbrechen drohte; wie er, halbverhungert und halbverblutet, Don Philipp zum Teufel schickte; wie er, von einer Armbrust behindert — wo hatte er sie wohl befestigt gehabt? am Gürtel? an der Schulter? — durch die Baumkronen turnte: verstörende Bilder, eins wie das andere. Denn es hatte selbst für Don Raffael etwas Beängstigendes, wenn in dieser abgezirkelten Welt jemand plötzlich aus der Rolle fiel oder — wie hier — über sie hinauswuchs. Und es dauerte eine Weile, bis er sich auf den beruhigenden Umstand besann, daß es in der Lebensgeschichte des Agostino di Castelcareggio von allem Anfang an etwas gegeben hatte, das nicht durchschnittlich war. "Ich fürchte," sagte er schließlich, "wenn wir den Geschehnissen nicht einen heraldischen Sinn beilegen wollen — und in diesem Fall würden sie eine ziemlich düstere Vorbedeutung für mich enthalten! —, bleibt uns nur die Wahl zwischen Ehrgeiz und Verrücktheit."

"Ehrgeiz? Ihr meint, weil der Sior Agostino schon im Monat darauf zum Mundschenk ernannt wurde, obwohl er das erforderliche Alter noch nicht erreicht hatte und das Amt folglich gar nicht ausüben konnte? Verzeiht mir, aber das halte ich für ausgeschlossen. Es gibt weniger umständliche — und weniger gefährliche! — Methoden, an ein Amt zu gelangen, und gerade der Sior Agostino hätte soviel Aufwand keinesfalls nötig gehabt. Übrigens wird er dieses Amt nie ausüben — auch jetzt nicht, wo er alt genug dafür ist! Bei meinem letzten Besuch in Montedolazzo habe ich erfahren, daß er es pünktlich zu seinem siebzehnten Geburtstag wieder zur Verfügung stellen will; inzwischen hat er das also wohl bereits getan."

"Diese windige Mundschenksache habe ich nicht gemeint. Ich werde mich jetzt für Euer Vertrauen revanchieren und Euch ein Geheimnis erzählen, das freilich nicht mehr allzuviel wert ist. Nach allem, was ich von Euch erfahren habe, bin ich überzeugt, daß die Spatzen es spätestens in einem Vierteljahr von den Dächern pfeifen werden. Ende Juni, etwa vierzehn Tage nach seiner Rückkehr von diesem Waldabenteuer, suchte Don Philipp eines Abends die Salons auf — das tut er, wie Ihr wißt, höchstens fünfmal im Jahr —, ging dort schnurstracks auf die Schwester des Sior Agostino zu, setzte sich neben sie, unterhielt sich ein paar Minuten lang mit ihr über so weltbewegende Dinge wie das Wetter und den Pfingstgottesdienst in der Hofkirche, — und trat am nächsten Morgen vor den König mit der Botschaft, daß er sich rettungslos in sie verliebt habe und sie unbedingt heiraten wolle. Und an diesem Wunsch scheint er nun schon seit Monaten festzuhalten."

Diese Eröffnung versetzte sogar Gianfrancesco da Mertola in sprachloses Staunen. "Ich kenne die Schwester des Sior Agostino nicht," äußerte er schließlich mit versagender Stimme.

"Nun, sie hat kaum Ähnlichkeit mit ihrem Bruder. Sie ist so goldblond, wie er brünett ist, durchaus hübsch, aber atemberaubend dumm und geradezu das Musterbild dessen, was man als frommes Schäfchen bezeichnet! Letztes Jahr, im Herbst, hat sie sich zum Gespött des Hofes gemacht, als sie eines Nachts vor Angst schreiend aus ihrem Schlafzimmer stürzte, weil hinter den zugezogenen Bettvorhängen ihrer Zimmergenossin etwas, das eigentlich nicht hätte bekannt werden sollen, unnötig geräuschvoll vonstatten ging. Da sei ein Ungeheuer im Bett ihrer Zimmergenossin und versuche sie zu erwürgen, schluchzte die Donna Beatrice, es sei ein fürchterlicher Kampf im Gange, mit Stöhnen, Ächzen, Keuchen, Schreien, und das Bett bewege sich immerzu, als sei es lebendig! Und das, obwohl sie nur noch vier Monate von ihrem achtzehnten Geburtstag entfernt war — ich hätte es ja nicht geglaubt, wenn meine Schwester, die das Ganze miterlebt hat, es nicht bestätigt hätte! Hat man Euch die Geschichte nicht erzählt?"

"Das ist mir alles völlig neu! Nein, also, wirklich! Ich habe ja einiges für möglich gehalten, aber das nicht — das gewiß nicht!"

"Versteht Ihr jetzt, was ich mit Ehrgeiz gemeint habe?"

"Ja, ich verstehe es, und ich verstehe auch, warum Ihr Euch so ausführlich nach dem Sior Agostino erkundigt. Trotzdem glaube ich nicht, daß sein Verhalten sich mit diesem Beweggrund erklären läßt. Es wäre jedenfalls der ungewöhnlichste Weg, den Ehrgeiz je gegangen ist."

"Dann bleibt wohl nur noch die Annahme, daß der Sior Agostino verrückt ist."

"Das glaube ich erst recht nicht! Man sagt so etwas immer leichthin, wenn jemand Dinge tut, die man selber nie tun würde, und mehr steckt auch im Fall des Sior Agostino nicht dahinter. Aber natürlich wird diese Behauptung nach seiner jüngsten Heldentat nicht mehr auszurotten sein."

"Hat er denn schon wieder etwas angestellt?"

"Ach! Ihr habt die neuesten Berichte aus Montedolazzo noch nicht erhalten! Ja, der Sior Agostino hat etwas getan — etwas, das sich nur dann mit Ehrgeiz begründen läßt, wenn man davon ausgeht, daß er es für den Höhepunkt einer Höflingslaufbahn hält, ein Jahrmarktsakrobat zu werden! Ich habe bereits erwähnt, wie schlecht gelaunt Don Philipp bei seinem letzten Besuch in Montedolazzo war; daß der ständige Regen dann auch noch die Jagd ungemütlich und unergiebig machte, hat ihn nicht gerade aufgeheitert. Am Tag vor meiner Abreise kehrte er verfrüht in die Festung zurück, völlig durchnäßt und überzeugt, daß er die jämmerliche Strecke nicht wesentlich vergrößern würde, wenn er das zweifelhafte Vergnügen bis zum Abend ausdehnte. Aber alles, was er danach unternahm, um die Zeit auf andere Weise totzuschlagen, stellte ihn nicht zufrieden, und daß der Sior Agostino sich sofort nach der Heimkehr in sein Zimmer zurückgezogen hatte — mir scheint, er kommt und geht inzwischen nach Belieben, ohne daß Don Philipp ihm noch Vorschriften macht — verschlimmerte die Lage zusätzlich. Als dann auch noch gegen Abend, zu spät, als daß ein erneuter Aufbruch sich gelohnt hätte, der Regen aufhörte, wurde Don Philipps Laune vollends mörderisch. Er trieb die gesamte anwesende Gesellschaft auf die Plattform des Nordturms, weil er angeblich den Sonnenuntergang ansehen wollte, und mir war klar, daß jetzt ein Unglück geschehen würde! Natürlich war bei dem wolkenverhangenen Himmel nichts von der sinkenden Sonne zu sehen, und als Don Philipp an die Zinnen trat, fiel ihm beim Blick in den Abgrund sofort der Sior Giustiniani ein — noch nie ist jemand posthum so sehr gehaßt worden! Um eine lange Sache kurz zu machen: nach manchem Hin und Her kam Don Philipp auf die Idee, von seinen Höflingen eine Mutprobe zu verlangen, nämlich einen Handstand auf einer der Zinnen. Mutproben sind eine ständige Begleiterscheinung des Lebens in Don Philipps Hofstaat. Man muß mit ihnen leben oder daran sterben; aber wie das Schicksal so spielt, fand sich gerade diesmal unter dem anwesenden Volk niemand, der von sich aus bereit gewesen wäre, ihm den Gefallen zu tun. Im Lauf des Nachmittags hatten alle genug getrunken, um nicht einmal mehr auf ihren Füßen ganz sicher zu stehen, aber nicht genug, um die Gefahr geringzuschätzen! Der Nordturm ist der höchste von Montedolazzo; er steht auf dem steilsten Ende des Berghangs, und wer da hinunterstürzt, fällt mindestens dreimal so lange wie der Sior Giustiniani von seinem Balkon, bevor er auf dem nackten Felsen aufschlägt.

Gewiß habe ich es leicht, mich über den Schrecken dieser Leute lustig zu machen; ich habe der Szene nur als Zuschauer beigewohnt. Auch als Don Philipp schließlich ankündigte, daß er, wenn sich niemand freiwillig meldete, eben nach Lust und Laune einen der Anwesenden auswählen würde, mußte ich nichts befürchten. Ich wußte seit dem Vorabend, daß er von mir etwas weit Schwierigeres verlangte; er brauchte mich noch! Aber die anderen konnten sich dessen nicht so sicher sein; sie standen alle kreidebleich da, und man sah jedem einzelnen von ihnen an, daß er sich fragte, wie entbehrlich er für Don Philipp war. Nun scheint mir, daß Don Philipp gerade diese allgemeine Angst am meisten genoß, und natürlich bin ich nicht sicher, ob er danach wirklich bis zum Äußersten gegangen wäre; aber er war unzweifelhaft in der Laune dazu, und damals war ich ebenso wie alle anderen davon überzeugt, daß er es ernst meinte.

Es wird wohl ein Geheimnis bleiben, wie die Geschichte geendet hätte — denn eben in diesem Moment erschien der Sior Agostino auf der Plattform. Harmlos lächelnd platzte er in das spannungsgeladene Schweigen, sah von Don Philipp zu den angstbleichen Gefolgsleuten und wieder zurück und erkundigte sich: ,Geht hier etwas Wichtiges vor? Habe ich etwas versäumt?' Don Philipp, dem diese Gelegenheit, die Spannung zu verlängern, gerade recht kam, weihte ihn ausführlich in die Sachlage ein, wobei er den Rest der Anwesenden mehrfach als Angsthasen und Schlimmeres bezeichnete. Natürlich konnte es keinen Zweifel daran geben, daß der Sior Agostino auch jetzt, wo er zugegen war, nicht zum Kreis derjenigen gehörte, von denen der Beweis des Gegenteils gefordert wurde. Vielleicht sollte ich noch erwähnen, welche Stimmung während Don Philipps Rede unter den Höflingen entstand. Es war, scheint mir, dieselbe, die an dem biblischen Brunnen geherrscht haben muß, kurz bevor Jakobs ältere Söhne den Joseph hineinwarfen. Ich habe den blanken Haß in den Augen dieser Leute gesehen; einen Moment lang erwartete ich wirklich, sie würden sich auf den Sior Agostino stürzen, um ihn über die Zinnen zu werfen!"


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TAURIS
Roman von Pia Frauss
21. Täter und Opfer M