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SCHLUSS
TAURIS oder Catterinas Entjungferung
Ein ahistorischer Roman von Pia Frauss
 

10    Gift und Galle


 
 
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An diesem Abend tanzte Catterina noch mit dem Herzog della Torre Siavestra, mit dem Fürsten von Monte d'Oressa, den Herzögen von Valdestina und von Genezzo, sowie den Erbprinzen von Bonavera und Casta Riverda. Vermutlich war keiner dieser Herren erfreut über die Pflichtübung, die das Zeremoniell ihm auferlegte; aber alle schickten sich mit Anstand und Haltung in das Unvermeidliche, und nach dem Tanz mit Don Philipp setzte niemand mehr seinen Ehrgeiz darein, Catterina zu erschrecken oder zu brüskieren. Der Herzog della Torre Siavestra, der mit seinen Worten ebenso sparsam umzugehen pflegte wie mit seinem Geld, und der mit Catterina bisher nur die obligatorischen Begrüßungsfloskeln gewechselt hatte, behielt während des gesamten Tanzes sein gewohntes mürrisches Schweigen bei. Die übrigen Herren aber fühlten sich allesamt dazu aufgerufen, wenigstens einige höfliche Bemerkungen über das Wetter, die Festaufführung, die Annehmlichkeiten der Flußreise von Valanta nach Atthagra oder ähnlich Belangloses mit ihr zu wechseln.

Der Erbe von Bonavera tat sich dabei besonders hervor. Er war ein beleibter Herr, der unter einer schlecht sitzenden Perücke schwitzte und dem fünfzigsten Geburtstag erkennbar näher stand als dem vierzigsten. Dennoch sah er weniger unzufrieden aus, als die Tatsache erwarten ließ, daß er trotz seines vorgerückten Alters noch immer im Nachfolgerstadium verharren mußte. Catterina fand ihn schon deshalb anziehend, weil sie sich aus ihrer Kindheit — während der letzten Jahre, die sie in seinem Haus verbracht hatte, war Martin di Cabirezzo ziemlich füllig geworden — eine Vorliebe für korpulente Männer bewahrt hatte. Im Lauf des Tanzes entpuppte er sich zudem als freundlicher und harmlos redseliger Mensch. Er erzählte Catterina, daß Don Raffael bis vor zwei Jahren viermal hintereinander jeden Herbst nach Castelcareggio, dem Stammsitz der Bonavera, gekommen war, um dort an einer Jagd teilzunehmen, und bedauerte wortreich, daß diese Besuche aufgegeben worden waren, als es gerade den Anschein hatte, daß sie zu einer festen Einrichtung werden sollten. Endlich äußerte er gar die Hoffnung, Catterina und Don Raffael im kommenden Jahr gemeinsam bei einem solchen Besuch in Castelcareggio begrüßen zu dürfen. Selbst Catterinas schüchternes Eingeständnis, sie verstehe nicht das mindeste von der Jagd, veranlaßte ihn nicht zu einer hochmütigen Reaktion; er nahm es vielmehr zum Vorwand, ihr einen langen Vortrag über die Freuden des Jagens mit Beizvögeln oder mit der Armbrust zu halten, den er mit einer Schilderung der phantastischen Jagdbeute beschloß, die er im vergangenen Herbst gemacht hatte. Es wäre eine Übertreibung gewesen zu behaupten, daß Catterina seine Ausführungen sonderlich spannend oder auch nur unterhaltsam fand. Sie war dennoch dankbar für das vergleichsweise unverfängliche Gesprächsthema und die Freundlichkeit, mit der er ihr begegnete, und sparte daher nicht mit kurzen Zwischenbemerkungen, in denen sie Interesse und Beifall bekundete. Am Ende des Tanzes schied sie mit aufrichtigem Bedauern von ihm und war fortan imstande, ihn jederzeit und überall wiederzuerkennen.

Der Erbe von Casta Riverda, mit dem sie danach tanzte, war eine ganz andere Art Mensch: einer jener besonders langhaarigen traditionsbewußten Herren, hager und hochgewachsen, kaum älter als Catterina; das lange gelockte Haar, Zeichen seines Stolzes, war brandrot, dünn und seidig glänzend, sein Gesicht vom üblichen Zuschnitt, aber auffallend bleich und sommersprossig. Trotz seiner Jugend benahm er sich steif und würdevoll. Er sprach langsam, gedehnt und mit näselnder Stimme, und vermutlich hätte er Catterina sogar eingeschüchtert, wenn der Druck seiner Hand nicht von jener weichen, teigigen und ein wenig feuchten Art gewesen wäre, die ihr noch stets das Gefühl vermittelt hatte, eine Kröte zu berühren.

Die außergewöhnliche Aufmerksamkeit, die Catterina ihm widmete, verdankte er lediglich dem Umstand, daß er der Bruder jener Dame war, welche Don Philipp als Don Raffaels ranghöchste Geliebte bezeichnet hatte. Wie verächtlich Catterina auch über Don Philipps Klatschgeschichten denken mochte — sie wäre kein Mensch aus Fleisch und Blut gewesen, wenn diese Geschichten sie nicht doch neugierig gemacht hätten. Und so erhoffte sie sich von der Begegnung mit Federico dei Riverdani Aufschlüsse über das Wesen seiner Schwester. Sie sah freilich bald ein, daß diese Bekanntschaft nur zu einer Frage mit zwei möglichen Antworten führte: daß entweder die beiden Geschwister kaum Ähnlichkeit miteinander hatten — oder daß Don Raffaels Geschmack im Hinblick auf Frauen recht sonderbar sein mußte.

Noch vor ihrem Weggang aus dem Festsaal veranlaßte der nähere Augenschein Catterina, der zweiten Antwort den Vorzug zu geben. Als sie den Tanz mit Federico dei Riverdani hinter sich gebracht hatte, führte Don Raffael sie in eine angrenzende Galerie, die den ranghöchsten Gästen vorbehalten war, und wo auf einem langen Tisch Erfrischungen bereitstanden. Beim Betreten der Galerie kam ihnen eine Gruppe von vier jungen Frauen entgegen — darunter eine, die Witwenkleider trug. Catterina erkannte sie mühelos als die Schwester ihres letzten Tanzpartners, obwohl sie nach der offiziellen Vorstellung — und dort hatte sie ihr natürlich keinerlei Beachtung geschenkt — nicht mehr mit ihr zusammengetroffen war. Aber die Ähnlichkeit zwischen Bruder und Schwester fiel ihr sofort auf: beide hatten den durchscheinend zarten, sommersprossigen Teint der Rothaarigen, ungewöhnlich breit wuchernde Augenbrauen, honigfarbene Augen und eine zu weit vorspringende muskulöse Nase. Im Gegensatz zu ihrem Bruder war die Frau allerdings nicht hager, sondern ausgesprochen mollig. Schön konnte man sie gewiß nicht nennen. Sie schien ebenso unauffällig-nichtssagend wie die meisten Hofdamen — eine Besonderheit ausgenommen, die Catterina mit leisem Erschrecken bemerkte: diese Dame hinkte.

Als die Damen an der Tür auf Catterina und Don Raffael trafen, traten sie zur Seite und knicksten; Catterina dankte mit einem Kopfnicken, Don Raffael verbeugte sich. Auf allen Gesichtern lag dieselbe würdevolle Gleichgültigkeit, und wenn die Dame, der Catterinas Aufmerksamkeit galt, ein bißchen weniger tief knickste als ihre Begleiterinnen, dann mochte das an ihrem Rang oder ihrem Gebrechen liegen — oder auch an beidem. Ansonsten geschah bei dieser kurzen Begrüßung nichts Auffälliges; niemand sprach ein Wort, und Catterina bedauerte das: sie hätte gern gewußt, ob die Stimme der Dame ebenso hochnäsig säuselnd klang wie die ihres Bruders.

Während sie am Tisch stand und die Gelegenheit, sich sattzuessen, mit bemerkenswert großem Appetit wahrnahm, betrachtete Catterina Don Raffael prüfend und versuchte sich auszumalen, wie er die fragliche Dame küßte oder gar jene Dinge mit ihr tat, für welche Don Philipp so rohe Bezeichnungen gebrauchte. Es gelang ihr nicht. Wie stets, wenn sie Don Raffael in einem seiner prächtigen Festanzüge sah, vermochte sie sich nicht vorzustellen, daß er darunter einen nackten und sogar ziemlich narbigen Körper versteckte; und jene Dame hatte in ihrer weißen Robe sehr unnahbar und sehr entrückt ausgesehen: man konnte ihr kaum zutrauen, daß sie überhaupt etwas von solchen Dingen wußte!

Je länger und je aufmerksamer sie Don Raffael betrachtete, umso deutlicher drängte sich aber auch die Erkenntnis in Catterinas Bewußtsein, daß er an diesem Abend keinesfalls wie ein Sieger wirkte. Er war wohl eher ein wenig grün im Gesicht. Zwar goß er eigenhändig Wasser und Wein in Catterinas Glas und sah dem Pagen, der ihr die Speisen vorlegte, genau auf die Finger; aber der Anblick der vollbeladenen Schüsseln und Platten, weit entfernt davon, ihn in Versuchung zu führen, schien ihm sogar Übelkeit zu bereiten.

Nachdem sie anfangs mit der eifrigen Hingabe eines Menschen gegessen hatte, der nicht weiß, wann es ihm das nächste Mal vergönnt sein wird, sich sattzuessen, verlor Catterina angesichts dieser Entdeckung allmählich den Appetit und fragte besorgt, ob Don Raffael sich nicht wohlfühle. Die offenkundige Erleichterung, mit der er ihre Frage bejahte, erschreckte sie noch mehr, da sie wußte, daß er nicht zu jenen Menschen gehörte, die sich über bloße Kleinigkeiten beklagen. Sie widersprach deshalb mit keinem Wort, als er ihr vorschlug, den Ball schon vor dem offiziellen Ende zu verlassen, und stellte ihren erst halb geleerten Teller ohne Zögern beiseite. An einem längeren Verweilen im Festsaal lag ihr ohnehin nicht das geringste; sie verzichtete klaglos darauf, vier weitere Tanzpartner aus der Nähe zu betrachten, und ließ sich unter den Klängen einer eilig zwischen zwei Tänzen eingeschobenen Fanfare hinausführen. Selten hatten ihre Wünsche mit denen Don Raffaels so völlig übereingestimmt.


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TAURIS
Roman von Pia Frauss
10. Gift und Galle/S