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TAURIS oder Catterinas Entjungferung
Ein ahistorischer Roman von Pia Frauss
 

11    Ein Bruderzwist
        im Hause Géttano


 
 
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In den Augen des Fürsten von Orsino zerfiel Raffael de Roccaferrata in zwei ganz unterschiedliche Wesen: in einen Menschen, den der Fürst abgöttisch liebte und als seinen kostbarsten Besitz betrachtete, und in den schlimmsten Feind dieses Menschen. Wenn Catterina Athenaïs Don Raffael für einen präsumtiven Selbstmörder hielt, dann befand sie sich damit, ohne es zu wissen, in illustrer Gesellschaft: schon vor Jahren hatte der Fürst eingesehen, daß es niemand gab, vor dem sein Bruder dringender beschützt werden mußte als vor sich selbst.

Ähnlich wie Catterina verdankte der Fürst diese Einsicht einem bestimmten Ereignis und konnte den Zeitpunkt ihres Entstehens genau angeben. Es war jenes fünf Jahre zurückliegende Duell, das Don Raffael mit dem unseligen Ottavio dell'Ipolda ausgetragen hatte. Die Nachricht von diesem Duell, das in Atthagra stattfand, hatte den Fürsten in Valanta erreicht, mitten in einer Börsensitzung. Von allen Börsensitzungen, an denen er teilnahm, war dies die einzige, die er vor dem Ende verließ, und in der Folge hätte er sich sogar fast überwunden, erstmals seit Jahren wieder auf ein Pferd zu steigen. Nur die Überlegung, daß der Zeitgewinn bei seinem mangelnden reiterischen Geschick minimal sein würde, hatte ihn von dem halsbrecherischen Wagnis abgehalten. Während der Flußreise aber — der eiligsten und düstersten, die er je machte — hatte der Fürst genug Zeit zum Nachdenken gefunden, um zu begreifen, daß Don Raffael ihm einen bösartigen Streich gespielt haben mußte: die Tatsache, daß ein solches Duell überhaupt stattfinden hatte können, ohne daß der Fürst im vorhinein davon erfuhr, und ohne daß einer von Don Raffaels zahlreichen Bewachern imstande gewesen war, es zu verhindern, bewies überzeugend, mit wieviel Scharfsinn und Entschlossenheit Don Raffael gehandelt hatte. Schon als er in Atthagra an Land ging, war der Fürst deshalb ebensosehr eine Beute des Zorns gewesen wie der Angst.

Seine Angst verflüchtigte sich jedoch unverzüglich und ließ den Zorn als Sieger auf dem Platz zurück, sobald er den geliebtesten aller Brüder lebend vorfand, mit einer klaffenden Brustwunde zwar und sehr geschwächt von einem großen Blutverlust, aber allem Anschein nach nicht in unmittelbarer Todesgefahr. Unfähig, sich darüber zu freuen, war der Fürst mit finsterer Miene an das Bett des Verletzten getreten, hatte ihn lange in schweigender Strenge gemustert und endlich nichts weiter gesagt als: "Das wird ein Nachspiel haben." Und Don Raffael, von den Ereignissen zu sehr mitgenommen, um sich rechtzeitig auf die Vorteile diplomatischen Verhaltens zu besinnen, hatte mit einer Widersetzlichkeit geantwortet, die den fürstlichen Zorn noch mehr anfachte: "Ihr werdet tun, was Ihr für richtig haltet; ich bin nicht in der Lage, Euch daran zu hindern, aber ich verspreche Euch, daß ich es nicht billigen werde."

Nach dem Verlassen des Krankenzimmers hatte der Fürst sich daher ohne Verzug an die oberste Kammer des königlichen Gerichts gewandt und Anklage gegen Ottavio dell'Ipolda, die fünf Duellzeugen und den Wundarzt erhoben, der bei dem Duell zugegen gewesen war. Den Arzt hatte er schon deshalb nicht verschont, weil alle vorliegenden Berichte glaubhaft versicherten, daß dieser Übelberatene Don Raffael, obwohl er heftig blutete, auf die herkömmliche Weise noch am Ort des Geschehens zur Ader gelassen hatte — womit er einem strikten Verbot des Fürsten zuwiderhandelte, seinen Bruder in welcher Lage und unter welchen Umständen auch immer zur Ader zu lassen, das zwei Jahre zuvor öffentlich bekanntgemacht worden war.

Die Beklagten wurden noch am selben Tag gefangengesetzt, und keiner von ihnen ließ sich lange um ein Geständnis bitten. Sie sagten allesamt beinahe unaufgefordert aus, und ihre Aussagen stimmten in den wesentlichen Punkten völlig überein. Was der Fürst jedoch aus den Verhörprotokollen erfuhr, die man ihm schon zwei Tage später vorlegte, hatte seine schlimmsten Befürchtungen weit übertroffen. Alle Verhörten waren in seltener Einmütigkeit bereit zu beschwören, daß Don Raffael in einem entscheidenden Moment des Kampfes einen Ausfall des Gegners nicht pariert und seine Waffe ohne erkennbare Veranlassung gesenkt habe, ganz so wie ein Mensch, der getroffen werden will. Die Aussagen stimmten auch dahingehend überein, daß Ottavio dell'Ipolda diese Bewegung gerade noch wahrgenommen und versucht habe, seine Waffe zurückzureißen; da sei es aber schon zu spät gewesen.

Anfangs weigerte der Fürst sich wütend, diesen Aussagen Glauben zu schenken, und sprach von Bestechung, Verleumdung, Komplott und verabredetem Meineid. Aber er wurde schnell eines Besseren belehrt. Soviele Wundärzte er auch an das Bett seines Bruders schickte — sie kehrten allesamt mit derselben Diagnose zurück: dies sei keine saubere und glatte Stichwunde; sie sei nicht allzu tief, und man könne deutlich sehen, daß die Waffe nicht in der üblichen Art gehandhabt, sondern ungeschickt mitten im Stoß aufgehalten und unkontrolliert auf einem anderen als dem Eintrittswege zurückgezogen worden sei. Und jeder der Ärzte erklärte sich bereit, seine Diagnose mit einem Eid zu bekräftigen.

Der Fürst wußte sehr gut, daß die Diagnosen der Wundärzte in der Regel ebenso zuverlässig waren wie ihre Therapiemethoden fragwürdig; er konnte daher nicht auf Dauer die Augen vor der schmerzlichen Wahrheit verschließen. In der Zwischenzeit hatte er das Krankenzimmer nicht mehr betreten, obwohl die Nachrichten über Don Raffaels Befinden zunehmend beunruhigend klangen. Auch an dem Morgen, als er sich gezwungen sah zu glauben, was alle Welt ihm unisono versicherte, war es vor allem Empörung gewesen, was ihn trieb, seinen Bruder aufzusuchen. Er betrat das Krankenzimmer mit dem festen Vorsatz, Don Raffael zu fragen, welcher Teufel ihn geritten habe, sich in das offene Schwert seines Gegners zu stürzen. Schon der erste Blick auf das fiebergerötete Gesicht seines Bruders jedoch bewirkte, daß er diese Frage völlig vergaß. Er stand geraume Zeit stumm und wie gelähmt vor Schrecken da, bevor er sich in den nächstbesten Sessel fallen ließ; und seine Zunge gehorchte ihm noch immer nicht völlig, als er sich stammelnd bei einem der Ärzte erkundigte: "Wird er es überleben?"

Diese von seiner ursprünglichen Intention so sehr abweichende Frage markierte den Beginn eines acht Tage währenden erbitterten Kampfes zwischen Don Francesco und den Ärzten, in dem der Fürst zum Glück für seinen Bruder die Oberhand behielt und hartnäckig auf dem Verbot bestand, ihn den üblichen Therapiemethoden gemäß zu behandeln. Obwohl Don Raffaels Zustand von Tag zu Tag bedenklicher wurde, blieb der Fürst den Vorhaltungen der Ärzte und den Einflüsterungen seines eigenen Gewissens gegenüber gleichermaßen taub. Sein Verdienst in dieser Sache war umso größer, als es verführerisch bequem gewesen wäre nachzugeben: wenn Don Raffael starb, durfte man in einem solchen Fall die Schuld getrost bei den Ärzten suchen; im anderen Fall aber würde der Fürst die Verantwortung für den Tod seines Bruders allein zu tragen haben.


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TAURIS
Roman von Pia Frauss
11. Ein Bruderzwist im Hause Géttano/A