So kündigte er Catterina seufzend an, daß das Abendessen gewiß sehr spät und höchstwahrscheinlich wiederum bei Don Francesco stattfinden werde, und machte sich auf den Weg, wobei er im stillen die neuen Rechte verfluchte, die ihm am Vorabend zugewachsen waren. Sie bedeuteten in seinen Augen nichts weiter als eine Menge bedrückend sinnloser Pflichten; denn er hielt es für ausgeschlossen, daß man ihm dabei irgendein Schriftstück von Bedeutung vorlegen würde. Don Francescos Zusagen boten zweifellos genausoviel Raum für eine freizügige Auslegung wie seine eigenen; aber trotzdem konnte er es sich nicht leisten, irgendein Dokument unbesehen zu unterzeichnen: die Gefahr war allzugroß, daß man ihm in einem solchen Fall früher oder später ein Schriftstück unterschob, das seinen Absichten und Interessen zuwiderlief. Obendrein stand ja noch zu erwarten, daß der Fürst wegen seiner morgendlichen Fechtübungen ungehalten sein und ihn abermals mit Vorwürfen empfangen würde; und wenn Don Raffael diese Auseinandersetzung auch für unvermeidlich hielt, war er doch nicht in der Lage, ihr völlig gelassen entgegenzusehen. Man konnte schließlich nie — selbst jetzt nicht — vorhersagen, welche Ausmaße ein solcher Streit erreichte.
Zumindest den letzten Punkt hatte Don Raffael unnötig pessimistisch beurteilt; denn der Fürst war am Vorabend tatsächlich zu verschwenderisch mit seinen Kräften umgegangen und befand sich deshalb an diesem Nachmittag in einem Zustand der Erschöpfung. Als Don Raffael eintrat, lehnte er, schlecht bei Atem und nicht gut bei Stimme, fast bewegungsunfähig auf seinem Kissenberg. Er beschränkte seinen Tadel auf einen fiebrig-finsteren Blick und die ärgerliche Feststellung: "Da kann man wieder einmal sehen, was von Euren Versprechungen zu halten ist." Aber damit ließ er es gut sein. Er erwartete weder eine Entschuldigung noch eine Rechtfertigung und wandte sich unverzüglich geschäftlichen Dingen zu, deren Abwicklung jetzt natürlich durch seine Schwäche zusätzlich kompliziert wurde. Gewöhnlich pflegte er seine Anweisungen, wenn ihm der Atem fehlte, sie auszusprechen, durch Gesten zu verdeutlichen; heute jedoch fiel ihm sogar diese Zeichensprache schwer. Er vermochte sie nur langsam und ansatzweise auszuführen; und es war wirklich ein Glück, daß seine Sekretäre bestens darin geschult waren, selbst solche vagen Andeutungen zu verstehen.
Ebenso war es ein glücklicher Umstand, daß Don Francesco genug Sekretäre besaß, die sich auf diese Kunst verstanden; denn einen von ihnen mußte er in Zukunft entbehren — jenen nämlich, der abends bei Catterina vorsprach, mit einem Beglaubigungsschreiben, das ordnungsgemäß unterzeichnet und gesiegelt und ganz ähnlich formuliert war wie am Vortag. Es forderte Catterina auf, sich zum Abendessen in die Gemächer des Fürsten zu begeben, wo Don Raffael sich derzeit aufhalte. Er sei von Arbeit überlastet und habe zu seinem Bedauern keine Zeit, sie persönlich abzuholen.
Catterina sah den Boten entsetzt an. Es war ihr alter Bekannter aus Valanta, der gleiche Mann, der ihr auch am vorhergehenden Abend die Vorladung an das Sterbebett des Fürsten überbracht hatte; und nur die heikle Erinnerung an die Auseinandersetzung in Valanta hinderte Catterina daran, das Ansinnen abzulehnen. Ihr graute vor dem finsteren Weg durch all die leeren Korridore und Säle, und im Grunde ihres Herzens hielt sie es für notwendig, Don Raffael zu zeigen, daß er aus dem gefährlichen Unternehmen keine Dauereinrichtung machen dürfe. Und noch bedenklicher wurde ihr zumute, als sie merkte, daß der zusätzliche Geleitschutz diesmal nur aus einem Oberst und drei gemeinen Soldaten bestand. Aber sie schreckte doch davor zurück, sich auf einen neuen Konflikt gerade mit diesem Sekretär einzulassen. So war sie denn aus Feigheit mutig und fügte sich ohne ausdrückliches Widerstreben in die Anordnung, weil sie die Gefahr der Peinlichkeit vorzog. Offenbar hatte sie aus ihren jüngsten Erfahrungen nichts gelernt und benötigte eine zweite Gelegenheit, um endgültig zu begreifen, daß blinder Gehorsam und allzugroße Zaghaftigkeit bei der Durchsetzung der eigenen Interessen verderbliche Fehler sein können.
Man brach also auf, in derselben Marschordnung wie am Vortag — freilich mit einer verringerten Vorhut —, und gelangte ohne Zwischenfall bis zu jener Flügeltür, welche die statuengeschmückte Galerie von dem nachfolgenden Saal trennte. Was Catterina anbelangte, so schritt sie auch noch durch diese Tür, die von zwei der vorangehenden Soldaten geöffnet und offengehalten wurde. Aber sobald sie den Saal betreten hatte, wurden die beiden Türflügel hinter ihr zugeschlagen und verriegelt, direkt vor der Nase der beiden Hofdamen, die ihr folgten.
Und nun zeigte sich endlich, daß die Erziehung, die Balthasar Benocchio seiner Tochter hatte zukommen lassen, eine vernünftige, notwendige und lebensverlängernde gewesen war. Er hatte sie mit einem wachen Sinn für Gefahr und stets bereiten Fluchtinstinkten ausgestattet — eine unschätzbare Mitgift, die sich jetzt als wertvoller erwies als alle Liebe und alle Reichtümer, die er ihr mit auf den Weg hätte geben können. Unter allen anwesenden Personen war Catterina die erste, welche die Lage begriff und zu handeln begann. Während die beiden fackeltragenden Soldaten sich noch verwirrt umsahen, raffte sie bereits ihr Kleid zusammen und trat die Flucht an, indem sie seitwärts aus der Reihe ausbrach, einen Bogen um die Gruppe der Soldaten machte und auf die gegenüberliegende Tür zulief. Gerade noch rechtzeitig bemerkte sie, daß der Oberst sie aufzuhalten versuchte; sie wich vor dem ausgestreckten Arm zurück und rannte weiter. Hinter ihrem Rücken hörte sie Männerschreie, Kampfgetümmel, das schrille Kreischen ihrer Hofdame und wuchtige Schläge gegen die Tür — und, weit bedrohlicher, die Stiefeltritte eines Verfolgers, der schneller war als sie: während alle anderen Geräusche sich entfernten, kam das letztere immer näher. Schließlich warf sie einen Blick über die Schulter und sah den Oberst, der, wenige Schritte hinter ihr, im Laufen seinen Säbel zog.
Sie rannte so schnell, wie jemand, der um sein Leben läuft, nur rennen kann. Aber es half nichts. Ihr Verfolger war nicht bloß kräftiger als sie, er hatte auch längere Beine und war nicht durch schwere Röcke behindert. Es dauerte nicht lange, da war er ihr dicht auf den Fersen. Sie spürte den Luftzug, als er mit dem Säbel ausholte, und schlug — kaum wußte sie noch, was sie tat — im letzten Moment einen Haken zur Seite. Der Hieb, der ohne Zweifel ihrem Kopf gegolten hatte, sauste pfeifend nieder — und traf ins Leere. Es war ein Hieb, der mit solcher Wucht geführt wurde, daß er sich nicht mitten im Niederfallen bremsen ließ. Er krachte splitternd in die Holzdielen, und der Mann, der den Säbel handhabte, verlor über seinem Schwung das Gleichgewicht, stolperte und stürzte mit Gepolter zu Boden.
Aber ach, er kam schnell wieder auf die Beine. Laut fluchend erhob er sich, riß den zitternden Säbel aus dem Parkett und nahm erneut die Verfolgung auf. Jetzt war er wirklich wütend. Vor seinem Sturz hatte es sich um die Erfüllung eines Auftrags gehandelt, nunmehr handelte es sich um eine Ehrensache. Er würde doch wohl noch imstande sein, einer dußligen Provinzgöre Herr zu werden! Der Vorsprung, den Catterina gewonnen hatte, verringerte sich zusehends.
Wir brauchen uns hier nicht mit einer Schilderung von Catterinas Gefühlen aufzuhalten. Was ein Mensch in ihrer Lage empfindet, ist vielleicht nicht vorstellbar, aber weitgehend begreiflich. Ausschlaggebend blieb, daß sie trotz allen Schreckens immer noch klar zu denken vermochte. Als sie merkte, daß die Schritte des Mörders sich abermals näherten, faßte sie verzweifelt die Tür ins Auge, die sie zu erreichen versuchte, und sagte sich, daß sie sie niemals erreichen würde. Und selbst wenn! Sie würde keine Zeit haben, diese Tür zu öffnen. Schlimmer: es würde gar nichts nützen, sie zu öffnen; dahinter lag nur ein zweiter finsterer Saal, für einen Mord ebenso geeignet wie der, in dem sie sich jetzt befand... Nein, es war zwecklos, weiterzulaufen, und blanker Wahnsinn, dem Angreifer noch länger den Rücken zuzuwenden. Sie mußte sich, komme es, wie es wolle, dem Kampf stellen.
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