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KAPITEL ANFANG |
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16 Mord |
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Unsere irdische Existenz ist weit mehr von der Politik geprägt, als wir im allgemeinen wahrhaben wollen; und unter diesem Begriff müssen wir wohl auch jede organisierte Form von Religion subsumieren. Von den Umständen der Zeugung bis zu den Begräbnisriten läuft das menschliche Leben in einem von Menschen geschaffenen Käfig ab, der sich von Land zu Land und von Epoche zu Epoche ändert und meist nur für solche Menschen erkennbar wird, die den Käfig wechseln oder gegen das Gitter stoßen. Nun ist jede Erkenntnis mit Schmerz verbunden, und diese scheint es in besonderem Maß zu sein, denn die Menschheit weicht ihr gerne aus, indem sie von Natur, Schicksal und göttlicher Vorsehung spricht; und es liegt ja wirklich etwas ebenso Schmeichelhaftes wie Tröstliches in der Vorstellung einer himmlischen Gewalt, die unser kleines Erdendasein wohlwollend durchs Mikroskop betrachtet und mit der Pinzette an unseren Lebensfäden herumzupft. Wer wäre nicht lieber von einem barmherzigen Gott abhängig als von einem erbarmungslosen Beamtenapparat? Im ersten Fall bleibt uns allezeit noch die Hoffnung auf ein Wunder. Und wie beruhigend ist erst der Gedanke, daß die irdische Macht, in deren Netzen wir zappeln, lediglich Werkzeug und Marionette einer höheren Instanz ist, die am Ende alle Konten ausgleichen wird, und gegen die zu rebellieren keinen Sinn hat. Spielt man uns gar zu übel mit, so steht zumindest den Dummen noch der — wenn auch gefährliche — Ausweg offen, an die Ränke der höllischen Konkurrenz zu glauben. Deshalb machen sich in der Regel nur wenige Unglückliche die Mühe nachzuprüfen, ob der Schatten, der über ihrem Leben hängt, von einem Paar Engelsflügel herrührt oder von jenem Raubvogel, den soviele Staaten nicht ohne Grund im Wappen führen. Catterina gehörte zu diesen Unglücklichen. Sie hatte erst den Schatten des Adlers und dann den Käfig erkannt, und die bittere Erfahrung war ihr in einem Alter zugestoßen, als ihre religiöse Unterweisung noch sehr zu wünschen übrig ließ und ihre Frömmigkeit entsprechend wenig ausgeprägt war. Daher verspürte sie keinerlei Drang, die Menschheit dadurch zu entschuldigen, daß sie die Verantwortung für ihr Mißgeschick Gott aufbürdete. Es war Politik, die ihren Adoptivvater ins Gefängnis warf, die sie zur mißhandelten Küchensklavin degradierte, die ihr den Zugang zur Akademie verwehrte und sie für alle Zukunft rechtlos und unfrei machen würde. Sie suchte weder nach einem himmlischen noch nach einem höllischen Fadenzieher. Wozu auch? Der Begriff "Politik" genügte, um ihr einen numinosen Schauder über den Rücken zu jagen. Schon vor ihrer Heirat wußte sie mehr von dieser Kunst als die meisten nicht unmittelbar daran Beteiligten: nämlich, daß sie nichts davon verstand, daß es aber etwas Unheimliches und abgrundtief Böses sein mußte, ein menschenverschlingender Moloch, unberechenbar, unangreifbar und allgegenwärtig wie Gott selbst. Nach ihrer Heirat, als ihre Unheilsahnungen auf so angenehme Weise enttäuscht wurden, hatte sie sich für ein paar kurze Tage verführen lassen, die Sache in einem weniger bedrohlichen Licht zu sehen. Diese Illusion war nun endgültig zerronnen. Don Raffael, der sie geschaffen hatte, hatte viel dazu beigetragen, sie wieder zu zerstören; aber er hatte das Zerstörungswerk allzu schonungsvoll vorangetrieben. Wenn die Geheimnisse auch schrecklich waren, in die er Catterina einweihte, so zog sie doch einigen Trost daraus, daß er sie ihr erzählte, und aus der Art, wie er davon berichtete: mit einem Lächeln, einem Achselzucken oder einem wohldurchdachten Kommentar hatte er selbst das Widerwärtigste noch in versöhnlichem Licht erscheinen lassen. Er hatte sie mit verbundenen Augen in ein Schlangengehege geführt, hatte ihr dann die Binde abgenommen und ihr einige der gefährlichsten Reptilien gezeigt, wobei er sich hemmungslos gründlich über deren Giftzähne und Angriffslust verbreitet hatte. Und Catterina war tapfer hinter ihm hergestolpert, weil er ihr wieder und wieder den Glauben einflößte, das ekelhafte Gewürm sei ein unvermeidliches Übel, mit dem man bei etwas Vorsicht und Besonnenheit doch leben und zurechtkommen könne. Auf solche Art war sie allmählich in eine Lage geraten, die sie nur durch den Anblick von Don Raffaels Gelassenheit noch erträglich fand. Ganz unausbleiblich war infolgedessen, daß Catterina nach der offiziellen Versöhnung zwischen den Brüdern von einer durchdringenden Angst befallen wurde. An diesem Abend ließ sich in Don Raffaels Verhalten wahrhaftig nichts Tröstliches mehr entdecken. Während er Catterina in ihre Zimmer zurückbegleitete und sich mit ihr und ihren Hofdamen zu Tisch setzte, gab er sich keinerlei Mühe, Zuversicht zu heucheln. Die vorausgegangene Sterbebettszene erlaubte ihm, seinen düsteren Gemütszustand offen zur Schau zu tragen; und er machte von dieser Freiheit Gebrauch, ohne Rücksicht auf seine Frau zu nehmen. Wie hätte er das auch tun sollen, da ihm doch kaum auffiel, daß sie überhaupt vorhanden war? Auf dem Rückweg sprach er kein Wort mit ihr, und bei Tisch blieb er gleichfalls stumm. Das Abendessen war schlicht und wenig umfangreich: eine Suppe, die versalzen schmeckte, offenbar, weil man sie schon lange warmgehalten hatte, lauwarme Hammelpastete, Sülzfische, Brot mit Schinken und getrocknetem Rindfleisch, sauer eingelegtes Gemüse, geräucherter Ziegenkäse und als Getränk ein arg gewässerter Wein. Diese Dürftigkeit entsprach einer Anordnung Don Raffaels, der das Essen mit dem Vermerk bestellt hatte, er sei nicht hungrig: eine mechanische Höflichkeitsgeste dem — durch die Verspätung vermutlich in Bedrängnis geratenen — Küchenpersonal gegenüber, die auf Catterinas Kosten ging. Sie hatte schließlich den ganzen Nachmittag hindurch gefastet und war schon während der Zeremonie im fürstlichen Krankenzimmer von einem wenig feierlichen Magenknurren geplagt worden. Don Raffael hatte das peinliche Geräusch offenbar nicht gehört, denn er dachte gar nicht daran, Catterina zu fragen, ob sie mit der Askese einverstanden sei, die er ihr auferlegte. Und obendrein strafte er sich selbst Lügen, indem er weit mehr aß, als sie ihn während der vergangenen Tage bei einer Mahlzeit hatte essen sehen. Trotzdem wirkte sogar dieser Heißhunger nicht wie ein beruhigendes Zeichen angesichts der geistesabwesend-finsteren Blicke und heftigen Bewegungen, mit denen Don Raffael über die Speisen herfiel. Er verschlang die Fische mitsamt den Gräten und den Käse mitsamt der Rinde; eigentlich aß er nicht, sondern vollzog einen Vernichtungsakt. Und obwohl Catterinas Appetit noch nicht völlig geschwunden war, lenkte das Essen sie nur notdürftig vom Rätselraten über das hereingebrochene Unglück ab. Danach zu fragen war natürlich undenkbar, nicht nur wegen der Hofdamen und Diener; Catterina fand ja noch nicht einmal den Mut, das allgemeine Schweigen durch irgendeine harmlose Bemerkung zu unterbrechen. Aber welche Bemerkung hätte in dieser Lage auch harmlos sein können? |
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TAURIS Roman von Pia Frauss 16. Mord und Totschlag/A |