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MITTE
TAURIS oder Catterinas Entjungferung
Ein ahistorischer Roman von Pia Frauss
 

Ein Ärgernis
des zweiten Hofballs


(Auszug aus Kap. 19)


 
 
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Wie der festliche Anlaß es erforderte, war Catterina in Begleitung aller vier Hofdamen bei dem Ball erschienen. Notgedrungen stand daher Bianca Barri hinter ihr, als Don Philipp kam, um sie protokollgemäß zum zweiten Tanz des Abends abzuholen. Catterina hörte sich das Sprüchlein an, das er aufsagte, und schien unschlüssig. Ja, sie hatte sogar schon die Hand gehoben, um sie in die ausgestreckte Don Philipps zu legen. Vielleicht hatte Bianca Barri sich bewegt, vielleicht hatte ihr Kleid geraschelt, vielleicht gab auch etwas anderes den Anstoß: jedenfalls zog Catterina plötzlich ihre Hand zurück und sagte laut, so daß alle Umstehenden — und folglich auch der König, der nur wenige Schritte von ihr entfernt saß — es hörten: "Nein."

Als Ohrfeige war es gemeint, und als Ohrfeige wurde es empfangen. Catterinas Drohung, nicht mehr mit ihm zu tanzen, war Don Philipp gewiß hinterbracht worden. Sie hatte ihn belustigt und zu Kommentaren angeregt wie "die dumme Gans nimmt den Mund gewaltig voll"; daß Catterina aber Ernst damit machen könne, war ihm nie in den Sinn gekommen, schon deshalb nicht, weil ein willentlicher Verstoß gegen das Zeremoniell unter den Augen der einzigen Respektsperson, die er noch nicht abgeschüttelt hatte, in seiner Weltvorstellung das Undenkbare war. Anlaß und Opfer einer solchen Übertretung zu werden, war kaum weniger schlimm für ihn, als habe er sie selbst begangen. Es stieß ihm nicht oft zu, daß er die Farbe wechselte, aber jetzt wurde er doch merklich blaß. "Verehrte Cousine..." sagte er ratlos.

Daß es ihn so schwer traf, überraschte Catterina: bei der ersten Konfrontation hatte sie den Eindruck gehabt, daß er sie geradezu zu einem Fehltritt zwingen wollte. Dennoch vermochte sein Entsetzen sie nicht zu besänftigen; es hatte vielmehr die gleiche Wirkung, die der erste Biß in warmes, saftiges Fleisch bei einem Bluthund hat. "Ich tanze nicht mit Männern, die meine Hofdamen beleidigen," erläuterte sie.

Die Musik, die bereits eingesetzt hatte, brach ab, da Don Philipp sich nicht wie erwartet auf die Tanzfläche begab, um den Tanz anzuführen. Don Philipp spürte, wie die neugierigen Blicke der Menschenschar hinter ihm sich in seinen Rücken bohrten, sah hilfeflehend auf seinen Großvater, der ausdruckslos an ihm vorbeistarrte, und sagte dann etwas sehr Unbedachtes: "Damals war sie ja noch gar nicht Eure Hofdame."

"Ihr gebt also zu, daß eine Beleidigung vorliegt und weiterbesteht," folgerte Catterina. Immer noch machte sie keine Anstalten, von der Estrade herunterzusteigen, vor der Don Philipp stand. Diese Verteilung der Positionen glich den Größenunterschied zu Catterinas Gunsten aus: Don Philipp hatte diesmal nicht den Vorteil, auf seine Gegnerin herabblicken zu können.

Übrigens kam er jetzt wirklich ins Schwitzen. Das Aufsehen, das er erregte, die Unerhörtheit des Vorgangs, die Gewißheit, daß der Unmut seines Großvaters beständig zunahm: all das verursachte ihm fast körperliche Schmerzen. Welcher Ausweg blieb ihm noch aus der grauenhaft peinlichen Lage? Er konnte Catterina unmöglich mit Gewalt von der Estrade herunterzerren. Also nahm er seine Zuflucht zur Lüge. "Vielleicht hat wirklich eine Beleidigung bestanden," gab er zu, "aber sobald ich erfuhr, daß die Donna Bianca Eure Hofdame werden würde, habe ich mich selbstredend ohne Aufschub bei ihr entschuldigt."

"So?" Für einen Moment schwankend geworden, sah Catterina ihn zweifelnd an. Unglücklicherweise erwiderte er ihren Blick mit einem treuherzigen Strahlen biederer Harmlosigkeit, das zu echt wirkte, um nicht als Lüge erkannt zu werden. Catterina wandte sich deshalb zu Bianca Barri und fragte scharf: "Stimmt das? Hat er sich bei Euch entschuldigt?"

Bianca Barri zögerte nicht. "Ja," erklärte sie und war sich dabei nur im Zweifel darüber, ob Catterina hier als ihre äußerst geschickte Feindin oder als ihre äußerst ungeschickte Freundin in den Kampf zog. Für den Fall, daß das zweite zutraf, sandte sie auch gleich ein Stoßgebet zum Himmel: er möge sie doch hinfort gnädigst mit solchen Freunden verschonen!

Daß sie ihrer Hofdame vielleicht mehr schadete als nützte, hatte inzwischen auch Catterina begriffen. Sie durchschaute Bianca Barris Lüge und deren Gründe sofort, erkannte aber ebenso schnell, daß sie jetzt nicht auf halbem Weg stehen bleiben würde. Dieser Kampf durfte nicht aufgegeben werden, bevor alle Mittel, ihn siegreich zu beenden, ausgeschöpft waren — koste es, was es wolle. "Ach ja?" sagte sie unbeeindruckt und wandte sich wieder zu Don Philipp. "Wann und wo hat diese Entschuldigung stattgefunden? Wer war dabei? Und warum habe ich bis heute nichts davon gehört?"

"Ihr hättet nur Eure Hofdame zu fragen brauchen," versetzte Don Philipp, zuversichtlich auf eine baldige glückliche Lösung hoffend. "Sie hätte Euch gewiß gesagt, daß die Entschuldigung an demselben Morgen stattfand, an dem ihre Ernennung zur Hofdame bekannt wurde. Ich habe diese Entschuldigung im Vorzimmer des Königs ausgesprochen; zugegen waren dabei ... Agostino di Castelcareggio und —" Er nannte drei weitere Höflinge, auf deren Ergebenheit er zählen konnte.

"Agostino di Castelcareggio, aber gewiß doch:" — Catterina lächelte spöttisch — "ein allzeit zuverlässiger Zeuge, wie Ihr mir schon bei unserem ersten Gespräch versichert habt! Und der Morgen, an dem die Ernennung der Donna Bianca zur Hofdame bekannt wurde, war eben der Morgen vor der Totenmesse für die arme Donna Emilia! Dann verstehe ich aber nicht recht, verehrter Vetter, warum Ihr so gar nichts von dieser Entschuldigung zu berichten wußtet, als ich Euch an jenem Nachmittag darum bat, obwohl sie doch zu diesem Zeitpunkt erst wenige Stunden zurückliegen konnte. Ihr habt sie mir vielmehr als etwas in Aussicht gestellt, das Ihr gewiß bald vollbringen würdet. Nein, was Ihr da sagt, überzeugt mich nicht, und wenn Ihr noch soviele Zeugen nennt. Zudem, selbst wenn Eure Behauptung zuträfe: schon im Hinblick auf die außerordentliche Verschwiegenheit des Schauplatzes und Eurer Zeugen wäre Euer Vorgehen unzulänglich. Die Beleidigung hat hier in diesem Ballsaal stattgefunden, wo jedermann sie sehen konnte. Hier, in diesem Ballsaal, wo jedermann es hören kann, werdet Ihr Euch folglich auch entschuldigen — jetzt gleich, bevor ich mit Euch tanze!"

Don Philipp stand reglos und starrte Catterina an. Daß ein dummes kleines Ding dubiosester Herkunft ihn zu etwas zwang, das er nie und nimmer hatte tun wollen — vor seinem Großvater, vor der gesamten Öffentlichkeit des Hofes! — war untragbar. Er würde nicht nachgeben. Indes, sein Mutterwitz war erschöpft. Eine unmißverständliche Ablehnung durfte er nicht äußern, die Folgen waren allzu klar; was er aber sonst sagen oder tun konnte, wollte ihm beim besten Willen nicht einfallen. Also stand er stumm da und versuchte Catterina mit Blicken einzuschüchtern.

Mit denen er freilich das genaue Gegenteil erreichte. Zu Beginn gelang es ihm nicht einmal, Catterinas Blick an den seinen zu fesseln. Ihre Aufmerksamkeit glitt von ihm ab; sie wandte sich kurz nach dem König um und schien dann die Höflingsschar zu betrachten, die vorsichtig näher heran drängte, — bis sie darin das erschrockene Gesicht Don Raffaels wahrnahm, der Laura Asturini zum Tanz abgeholt hatte und immer noch nahe bei der Estrade auf dem Fleck stand, wo er darauf gewartet hatte, seinem Vetter zur Tanzfläche zu folgen. Und als Catterinas Blick jetzt zu Don Philipp zurückkehrte, las dieser darin nicht Nachgiebigkeit, sondern mörderische Wut.


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TAURIS
Roman von Pia Frauss
20. Rösselsprünge M