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KAPITEL SCHLUSS |
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19 Prozesse |
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Erhitzt und rotwangig von einem längeren Fußmarsch trat Maria Morosini jetzt über die Schwelle, schüttelte ihren nassen Rocksaum aus, bevor sie sich setzte, und berichtete, daß sie auf dem Heimweg vom Regen überrascht worden war. Sie sei wie die übrige Hofgesellschaft zu dem feierlichen Totenamt im Dom gegangen und nicht früh genug aufgebrochen, um noch eine Sänfte zu ergattern. "Ich hoffe, der Regen hört bald wieder auf," sagte sie in ahnungsloser Gutmütigkeit zu Astorre. "Wenn er anhält, könnt Ihr Euch bei der Jagd in Castelcareggio leicht eine Erkältung holen — und für uns wird es eine unbequeme Reise werden." Astorre murmelte etwas Unverständliches und sah so kummervoll drein, daß Bianca Barri sich eilig erkundigte: "Ich hoffe, Ihr habt Euch gut unterhalten?" Maria Morosini bemerkte die Ironie nicht. Es sei eine sehr schöne Hinrichtung gewesen, bestätigte sie mit glänzenden Augen und stürzte sich unaufgefordert in die Schilderung, für die sie offenbar unbedingt ein Publikum brauchte. Sie war keineswegs erschüttert, sondern eher angenehm erregt. Mit dem naiven Kannibalismus, der lebensfrohe Menschen auszeichnet, berichtete sie, wo sie gestanden war, mit wem sie gesprochen und was sie gesehen hatte. Die Menschenmenge sei so zahlreich gewesen, daß der Domplatz sie kaum fassen konnte; der König habe in seinem Ornat äußerst prächtig gewirkt, und der Henker habe sich als Meister seines Fachs erwiesen: beidemale habe er seinen Auftrag mit einem einzigen Beilhieb endgültig erledigt, zur vollsten Zufriedenheit der Zuschauer — nur sei anschließend darüber gestritten worden, ob es ihm beim dritten Mal ebenso glatt geglückt wäre. Und Don Raffael — hier gab sie einem Anfall frommer Jungmädchenschwärmerei nach und schauderte in ehrfürchtiger Ergriffenheit beim Gedanken an die Stimme, die so glasklar, bestimmt und erbarmungslos zweimal verkündet hatte: "Vor Gott — vor dem Gesetz — vor meinem Gewissen" — Don Raffael sei einfach ... einfach atemberaubend gewesen, unvergleichlich schön in seinem schwarzen Anzug, unnahbar wie ein Gott, grausam wie ein Racheengel. Kurz, es war ein unvergeßliches Erlebnis, wohl wert, daß man auf dem Heimweg ein bißchen naß wurde. Am Ende ihres Redeschwalls warf sie einen mitleidigen Blick auf ihre Zuhörer, denen all das entgangen war, und wollte wissen, warum Astorre denn eigentlich in der Burg geblieben sei. Astorre antwortete mit einer Gegenfrage. "Wie alt seid Ihr?" "Zwanzig Jahre, seit einem Vierteljahr," gestand Maria Morosini. "Und es ist Eure erste Hinrichtung, oder täusche ich mich? Nun, als ich so alt war wie Ihr, hatte ich schon sieben gesehen. Glaubt mir, ich kenne den Vorgang." Maria Morosini blickte ihn fassungslos an. Sie wäre mit Freuden gleich am nächsten Tag, sogar bei strömendem Regen, wieder in die Stadt hinabgestiegen, um das Schauspiel noch einmal zu genießen, und konnte sich nicht vorstellen, daß sie sich je daran sattsehen würde. Diesmal sei es doch etwas Besonderes gewesen, gab sie zu bedenken, ein abscheuliches Verbrechen, das den Haushalt, zu dem sie jetzt gehörte, unmittelbar betraf, und sie könne es dem Fürsten von Orsino nachfühlen, wenn er sich darüber entrüste, daß der schlimmste von den drei Schurken mit bloßer Festungshaft davonkomme. Warum die Donna Catterina sich ausgerechnet für den Sekretär eingesetzt hatte, sei ja auch wirklich unbegreiflich. "Ich dachte, Ihr kennt die Gründe," warf Bianca Barri ein. "Ihr wart doch angeblich dabei, als die Donna Catterina ihr Gesuch geschrieben hat." "Ja, aber damals bezog es sich doch auf alle drei Verurteilten! Ach, das habe ich Euch gestern nicht mehr erzählen können! Also, wenn ich den Fürsten recht verstanden habe, dann hat die Sache sich folgendermaßen zugetragen: der König hat der Donna Catterina freigestellt, unter den drei Männern denjenigen auszuwählen, den er begnadigen würde, und sie hat sich für den Sekretär entschieden. Deshalb ist der Hohe Herr ja so aufgebracht! Er sagt, der Sekretär sei im Gegensatz zu dem übrigen Gesindel nicht bloß ein Mörder, sondern obendrein noch ein Verräter." "Offensichtlich hat der Fürst die anderen beiden Männer nicht gut genug gekannt," konstatierte Astorre trocken. "Und was hat die Donna Catterina dem Hohen Herrn geantwortet?" fragte Bianca Barri. Erstmals gewann sie dem Gespräch Interesse ab. "Also — das war wirklich zu hoch für mich. Irgendwie lief es darauf hinaus, daß der Sekretär kein Verräter, sondern ein besonders treuer Diener gewesen sei, dessen ... ja, irregeleitete Ergebenheit man nicht mit Undank vergelten dürfe. Das verstehe, wer will! Der Fürst hat es jedenfalls nicht verstanden." Bianca Barri schwieg. Astorre hatte anscheinend weniger Schwierigkeiten als sie, den Bericht einzuschätzen, denn nach einer Weile sagte er anerkennend: "Wahrhaftig, eine sehr bemerkenswerte Frau! Ich muß mich schämen, daß ich sie je für etwas anderes gehalten habe." Diese Ansicht konnte Bianca Barri nicht teilen. Sie befürchtete ernsthaft, daß Catterinas Aufsässigkeit das banalste, unerfreulichste aller Motive haben könnte, nämlich den Drang, Schwierigkeiten, Ärger und Aufruhr zu verursachen. Ihre Entscheidung für den Sekretär war ein zuverlässiges Mittel gewesen, den Fürsten in Wut zu versetzen; wenn sie von vornherein beabsichtigt hätte, das zu erreichen, hätte sie nichts anderes tun können. Und man durfte wohl davon ausgehen, daß ihre Hofdamenwahl auf vergleichbaren Beweggründen basierte. Als sie sich, nichts Gutes ahnend, zum Abendessen niedersetzte, war Bianca Barri nahe daran, ähnlich mitleidige Blicke auf Don Raffael zu werfen wie ihre Feindin Laura Asturini nach der Hochzeitszeremonie. Da sie tatsächlich ein neues Kapitel des Ehezwists erlebte, hätte sie dafür auch genug Anlässe gefunden. Bei diesem Essen wollte Catterina hören, was Bianca Barri kurz zuvor hatte hören müssen: eine Beschreibung der Hinrichtung. Catterina verlangte sie jedoch nicht von Maria Morosini, sondern von Don Raffael, der offenkundig kein Verlangen hatte, sich zu dem Thema zu äußern. Es sei insgesamt eine widerwärtige, ekelerregende Volksbelustigung, sagte er. Solche Maßnahmen seien leider manchmal nötig, aber in ihrem Ablauf alles andere als erfreulich, und er sei froh, daß er die Prozedur hinter sich habe. Darüber auch noch zu sprechen, scheine ihm gänzlich überflüssig. Catterina verschloß sich seinem Appell und gebärdete sich mehr und mehr wie ein ungezogenes Kind. Auch sie hatte in ihren gut zwanzig Lebensjahren noch nie eine Hinrichtung gesehen: nun wolle sie doch wissen, wie so etwas vor sich ging. Da gerade diese Hinrichtung ihretwegen stattgefunden hatte, habe sie ja auch ein Recht darauf, die Einzelheiten zu erfahren. Und dann begann sie höchst gründlich nach solchen Einzelheiten zu fragen. Bianca Barri bewunderte die Selbstbeherrschung, mit der Don Raffael die Tortur über sich ergehen ließ. Wieder einmal war seine Höflichkeit durch nichts zu erschüttern. Eine nach der anderen wehrte er alle Fragen geduldig ab und wurde erst am Ende eines langwierigen Verhörs sarkastisch, als Catterina sich nach dem Verhalten der Opfer erkundigte. "Ich bin diesen Gegenstand jetzt leid, Madonna," stellte er fest. "Die Sache ist gottlob reibungslos verlaufen, mehr gibt es darüber nicht zu sagen, und was die beiden Unglücklichen betrifft, auf die Ihr Eure Anteilnahme verschwendet, so sind sie als neuerlicher Beweis für die langerprobte Wahrheit gestorben, daß die Tugenden, die einen Mann aufs Schafott bringen, ihn in aller Regel auch befähigen, dort eine gute Figur zu machen." Selbst dabei wirkte er noch vollkommen kühl und gefaßt. Aber am nächsten Morgen kursierte das Gerücht in der Königsburg, daß er in der Nacht einen Anfall gehabt habe. |
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TAURIS Roman von Pia Frauss 19. Prozesse und Urteile/S |