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KAPITEL SCHLUSS |
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18 Angelicas Väter |
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Don Raffael wurde Anfang Juni auf ihren Zustand aufmerksam, als er zum einzigen Mal zwischen dem Ende seiner Liebesgeschichte und seiner Heirat versuchte, eine neue Liebschaft mit einer Hofdame zu beginnen. Leider wählte er dafür eine sehr temperamentvolle Frau; und als er das bewußte Schlafzimmer betrat — erstmals seit bald zwei Jahren und mit dem Gefühl, eine Entweihung zu begehen — kam er gerade zurecht, um ein schrilles Keifen mitanzuhören, das sich im Ankleidezimmer erhob. Er ging hin, die Ursache zu erkunden, sah bei seinem Eintritt, wie die neue Liebschaft der Zofe eben eine schallende Ohrfeige versetzte, und erfuhr sodann, daß diese Mißgeburt die Dame, als sie ihr die Haube abnahm, mit einer Nadel gepiekst und ihr — absichtlich, absichtlich! — ein paar Haare ausgerissen hatte. Don Raffael hörte sich das Geschrei eine Weile an. Stumm betrachtete er erst die abgemagerte, verwildert aussehende Zofe, die sich die Wange hielt und ihn durch ihre Tränen hindurch mit zornigem Triumph anstarrte, und dann das wutverzerrte Gesicht der Frau, die ihm noch am Vorabend hübsch erschienen war. In diesem Moment haßte er sie so sehr, daß er sie am liebsten erwürgt hätte: sie führte ihm schonungslos vor Augen, was er verloren hatte. "Madonna," sagte er endlich kühl, während er immer noch mit dem Impuls rang, ihr wenigstens die Ohrfeige zurückzugeben, "es hat keinen Zweck, daß Ihr so laut schreit. Ich kann Euch auch verstehen, wenn Ihr leiser sprecht, und die Zofe hört Euch selbst dann nicht, wenn Ihr noch mehr Lärm macht. Die Frage ist, wollt Ihr sofort wieder gehen, oder wollt Ihr hierbleiben? Entscheidet Euch. Im zweiten Fall möchte ich aber keine Klagen mehr hören. Übrigens ist es in meinem Haushalt nicht üblich, die Diener zu schlagen." Natürlich wollte die Dame bleiben. Sie schluckte schnaubend die Grobheiten sowohl der Dienerin als auch des Herrn und nahm es sogar hin, daß Don Raffael an diesem Tag seinem Ruf als behutsamer Liebhaber wenig Ehre machte. Es war das erste Mal, daß er aus purem Zorn mit einer Frau schlief, beinahe gewaltsam und ohne das geringste Bemühen um Rücksicht; nichts anderes als die Wut hätte ihn in einer solchen Lage noch zu Angriff und Sieg befähigen können. Die Dame hielt seine Wildheit freilich für Leidenschaft, fand sie nicht so abschreckend, wie sie gemeint war, und wäre gern wiedergekommen; aber er gab ihr keine zweite Chance. Am Abend nach diesem Auftritt verwünschte Don Raffael mehr denn je das Schicksal, das ihm selbst den billigsten Trost versagte. Er konnte sich nicht betrinken. Was andere zu Säufern gemacht hätte, ließ ihn geradezu abstinent werden. Seit seinem Abschied von Bianca Barri wagte er sich der Grenze, die er früher als kritisch empfunden hatte, nicht einmal mehr von ferne zu nähern. Er wußte, ein einziges Glas zuviel würde die gleiche Wirkung haben wie eine brennende Fackel, die man in ein Pulvermagazin wirft; und eine solche Eruption wollte er sich doch lieber ersparen. So versuchte er sich wieder einmal mit Arbeit zu betäuben, und erst nachdem er eine gute Stunde lang über einundderselben Akte gebrütet hatte, ohne von einem Satz zum nächsten noch zu wissen, wovon sie handelte, beschloß er, sich mit der Zofe zu befassen. Sobald er den Majordomus zu ihrem Verhalten befragt und dabei nichts erfahren hatte, was er nicht bereits erraten konnte, ließ er sie in sein Arbeitszimmer holen, bot ihr einen Sessel an, setzte sich ihr gegenüber und bedauerte erstmals, daß er nie mehr als die Grundbegriffe der Zeichensprache gelernt hatte, die seine Mutter hatte entwickeln lassen, als sie in Orsino eine Kolonie taubstummer Diener einrichtete. Er konnte nur hoffen, daß diese zornige junge Frau bereit und fähig war, von seinen Lippen zu lesen. Häufig auf die Frage "verstehst du mich?" zurückgreifend, sagte er so langsam wie möglich: "Glaub mir, ich habe sie nicht fortgeschickt. Ich würde sie jederzeit wieder haben wollen, wenn sie zurückkäme. Ich habe auch nicht verlangt, daß sie dich zurückschickt, und wäre froh gewesen, wenn sie dich behalten hätte. Es war ihr eigener Entschluß, und ich kann ihn nicht ändern. Ich bin genauso traurig wie du; aber ich muß es auch ertragen. Natürlich mußt du in Zukunft keine Damen mehr bedienen, wenn du das nicht willst; und wenn ich sonst noch etwas tun kann, um dich zu trösten, dann laß es mich bitte wissen. Willst du zurück nach Orsino, zu deiner Familie?" Die Zofe, die zumindest einen Tadel erwartet hatte, hatte ihm aufmerksam beim Sprechen zugesehen und nach jeder Verständnisfrage genickt. Jetzt schüttelte sie mit Entschiedenheit den Kopf. "Willst du vielleicht heiraten? Ich könnte jemand beauftragen, einen passenden Ehemann für dich zu suchen, und du brauchst keinen zu nehmen, der dir nicht gefällt." Neuerliches Kopfschütteln; dann jedoch begann die Zofe plötzlich sehr lebhaft mit den Händen zu sprechen. Es handelte sich offenkundig um eine Bitte. Das war leider alles, was Don Raffael verstand; er mußte erst die in der Zeichensprache bewanderte Haushälterin rufen, um zu erfahren, daß die Zofe nichts weiter wünschte, als in Atthagra bleiben und gelegentlich die Zimmer ihrer früheren Herrin betreten zu dürfen. Don Raffael fand diese Bitte nicht unbescheiden und erfüllte sie sofort, indem er der Zofe feierlich einen Schlüssel überreichte und ihr zusicherte, daß sie künftig keine andere Aufgabe haben solle, als diese beiden Räume in Ordnung zu halten. Allerdings, so drohte er, werde er ihr diese Aufgabe sofort wieder wegnehmen, wenn es weiterhin Klagen darüber gebe, daß sie nicht regelmäßig esse und ungekämmt in schmutzigen Kleidern herumlaufe. Er schaffte das Problem damit tatsächlich auf Dauer aus der Welt und leistete sich danach eine Weile den Luxus, eine Bedienstete ausschließlich für etwas zu bezahlen, was man heute Trauerarbeit nennen würde. Freilich fand er den Gedanken fast amüsant, daß dieses düstere Wesen wie ein Gespenst seiner Liebe durch die verlassenen Räume huschte, Staub wischte, Spiegel polierte, Kleider auseinanderfaltete und neu zusammenlegte, damit sie keine Druckstellen bekamen, und alles in einem Zustand erhielt, welcher der Bewohnerin erlaubt hätte, in jeder beliebigen Minute zurückzukehren. Er versäumte auch bei keinem der beiden folgenden Besuche in Atthagra — es waren die letzten vor seiner Heirat —, die Zofe rufen zu lassen, sowie er sein Appartement betreten hatte, und sie freundlich zu fragen, ob es ihr gutgehe und ob sie mit ihrer Aufgabe noch zufrieden sei. Ausführlichere Unterhaltungen mit ihr gönnte er sich jedoch nicht mehr, und der Abend, an dem er ihr gut zugeredet hatte, blieb die einzige Gelegenheit, bei der er je von seinem Kummer sprach. Selbst da hatte er es erst getan, nachdem er das, was er sagte, sorgfältig von dem getrennt hatte, was er fühlte, und von sich selbst zu sprechen vermochte wie von einer Person, die ihn im Grunde nichts anging. Denn er war in dem Glauben aufgewachsen, daß ein Mensch keine andere Möglichkeit hat, Dinge zu vergessen, die ihn bedrängen, als nicht davon zu sprechen, ja, nicht einmal daran zu denken; und die Art, wie Don Francesco ihn von seinen Anfällen kurierte, hatte ihn nicht zu der Einsicht bekehrt, daß der Weg des Vergessens gerade in die umgekehrte Richtung führt: nämlich, so oft und solange von dergleichen Dingen zu reden, bis man selbst nichts mehr davon hören mag. Seit der Erfindung der modernen Zivilisation ist dies freilich ein Weg, den kein Mensch gehen kann, der weiterhin ernst genommen werden will; und Don Raffael hätte eine solche Möglichkeit der Erlösung von vornherein als utopisch erkannt, wenn er sie je in Betracht gezogen hätte. Mit wem hätte er denn sprechen sollen? So hielt Don Raffael seine Trauer sorgfältig unter Luftabschluß und wunderte sich, daß sie frisch blieb. Als die Monate verflossen, schien dieser Zustand ihm sogar zunehmend lächerlich. Schließlich, es gab wichtigere Dinge als eine gescheiterte Liebe, er hatte wahrhaftig genug andere und weit größere Sorgen, das Leben ging weiter, und mit dem Unabänderlichen muß man sich abfinden: warum also konnte er nicht aufhören, darunter zu leiden? Aber er konnte es nicht und häufte noch zusätzlich Munition in seinem Vorrat an, indem er sich damit quälte, es ernsthaft zu versuchen; und das tat er unverdrossen bis zu jenem Septemberabend in Valanta, wo er die Erfahrung machte, daß Musik mitunter ebenso gefährlich ist wie hochprozentiger Branntwein. Es war der Abend, an dem der Blitz in sein Pulvermagazin einschlug. |
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TAURIS Roman von Pia Frauss 18. Angelicas Väter/S |