|
|
KAPITEL ANFANG |
|||||
22 Zerreissende |
|
|
"Nein," sagte Catterina, während sie fassungslos die beiden Briefe in ihrer Hand betrachtete, "das kann nicht sein! Das ist nicht möglich — ich glaube es einfach nicht!" Und nach einer Pause, in der sie die zittrig geschriebenen Texte nochmals studierte, behauptete sie gegen bessere Überzeugung: "Es war Isabella Sebaldi, die das entweder geschrieben oder diktiert hat!" "Verzeiht mir, aber für sehr wahrscheinlich halte ich das nicht," widersprach Don Raffael. Sein Treffen mit dem Stadthauptmann lag gerade vierundzwanzig Stunden zurück, und schon hatte er erneut eine unerfreuliche Unterredung zu bestehen. Zu diesem Zweck hatte er nach dem Mittagessen alle Hofdamen weggeschickt und war mit seiner Frau allein geblieben, um ihr endlich zu eröffnen, was er seit Wochen wußte: ihr Adoptivvater lebte und lebte in Corvalla, wollte sie aber nicht wiedersehen. Die beiden Briefe, die Catterina jetzt in der Hand hielt, sprachen das in aller Deutlichkeit aus. Beide waren von Martin di Cabirezzo unterzeichnet; der erste war noch nach Atthagra geschickt, der zweite erst wenige Tage zuvor geschrieben worden. Die Adoption sei in aller Form rückgängig gemacht worden, erklärte Martin di Cabirezzo; zuviele Jahre seien seither vergangen, und er sehe keinen Sinn darin, eine abgeschlossene Geschichte wiederaufleben zu lassen. Jede Begegnung mit seiner Tochter werde gerade das Aufsehen erregen, das er vermeiden wolle. Denn er habe bisher unerkannt und unbehelligt in Corvalla gelebt, wolle das auch in Zukunft so halten und habe nur den Wunsch, seine Tage in Ruhe zu beschließen. Wenn sein Wohl für seine frühere Tochter noch von Bedeutung sei, dann werde sie ihm diesen Wunsch verzeihen und sich damit abfinden. Text und Unterschrift der Briefe stammten von derselben unsicheren Hand — eine Tatsache, die Catterinas Verdacht bezüglich der Verfasserschaft zumindest teilweise widerlegte. Dennoch ereiferte sie sich lange über die Vermutung, und Don Raffael hatte Mühe, sich Gehör zu verschaffen, als er ihr erzählte, was er inzwischen über ihren Adoptivvater herausgefunden hatte. Corvalla, das durch den Niedergang Horenas auf etwa vierzigtausend Bewohner angewachsen war, ernährte seit zwölf Jahren zwei Theatertruppen, eine städtische und eine königliche, die sich dasselbe Theater teilten, ein ehemaliges Lagerhaus nahe der Stadtmauer, wo etwa fünfhundert Zuschauer Platz fanden. Früher hatte es dort jede Woche vier Vorstellungen gegeben, zwei von jeder Truppe, und beide Truppen waren gleich beliebt gewesen. Da die Anzahl der Zuschauer trotz allem begrenzt war, galt ein Stück schon dann als Erfolg, wenn es elf Vorstellungen erreichte; es wurde unweigerlich vom Spielplan genommen, sobald eine Aufführung höchstens noch hundert Zuschauer anzog. In den letzten Jahren jedoch hatte sich etwas geändert. Eine auffallend hohe Anzahl von Stücken der städtischen Truppe hatte es auf zwanzig, eines sogar auf zweiunddreißig Vorstellungen gebracht. Sie hatte die königliche an Beliebtheit eindeutig überflügelt und nahm das Haus jetzt mit großem Gewinn für drei Abende pro Woche in Anspruch. Inzwischen stand fest, daß dies den Szenenmusiken zu verdanken war, die sie zunehmend häufig bei Martin di Cabirezzo bestellte: jedes Stück, das der einstige Hofmusikdirektor bearbeitete, sorgte für volle Kassen. Seine Musik zog selbst jene auswärtigen Besucher in Scharen an, die sich früher naserümpfend geweigert hatten, das Theater von Corvalla zu betreten; und seit der Theaterdirektor Briefe aus Atthagra erhielt, in denen nach Aufführungsterminen gefragt wurde, um Reisepläne darauf abzustimmen, schien es erforderlich, diese Musik mit dem Namen eines Komponisten zu verbinden. Nun, Martin di Cabirezzo lebte seit sieben Jahren in einem der neuen Viertel außerhalb der Stadtmauer, wo sich vor allem Juristen, Akademiker und königliche Beamte niederließen — "Neubürger" eben, die keinem Handwerker- oder Kaufmannsverband angehörten. Wenn er in diesem Viertel überhaupt aufgefallen war, dann durch seine übertriebene Zurückgezogenheit. Obwohl allem Anschein nach bei guter Gesundheit, verließ er selten das Haus, und es gab Nachbarn, die nicht einmal wußten, wie er aussah. Er nannte sich nach dem Vornamen seines Vaters Martin di Severo, und als der Theaterdirektor ihm nun plötzlich vorschlug, von den Toten aufzuerstehen — will sagen, seinen richtigen oder wenigstens seinen falschen Namen auf die Theaterzettel drucken zu lassen —, da fertigte er ihn mit der gleichen Antwort ab, mit der er jetzt Catterina brüskierte: er wolle seine Ruhe haben. Zu guter Letzt hatte er sich dem Anliegen seines Gönners jedoch nicht völlig verschließen können und einem Strohmann-Arrangement zugestimmt, unter der Bedingung freilich, daß er den Strohmann selbst aussuchen dürfe. Auf diese Weise war Evaristo Menardi ins Spiel gekommen, dessen Name auf den Theaterzetteln seither dafür garantierte, daß die ersten Vorstellungen eines neuen Stücks stets schon im voraus ausverkauft waren. Zweifellos hatte Martin di Cabirezzo da eine gute Wahl getroffen; denn bei aller Freude über den Glückszufall, der ihm erlaubte, mehr Gewinn aus seinem bloßen Namen zu schlagen, als er sich je von seinem musikalischen Talent versprochen hatte, wurde der junge Menardi offenbar ständig von Gewissensbissen geplagt, hegte für den Stifter seines Glücks demutsvolle Dankbarkeit und lebte nun schon länger als ein Jahr einträchtig mit ihm unter demselben Dach. In der Tat, um Martin di Cabirezzo zu finden, hatte es genügt, die Wohnung des Evaristo Menardi auszukundschaften. Schon Anfang November war Don Raffael über den Verbleib von Catterinas Adoptivvater bestens informiert gewesen. Nun war Catterina erst recht empört. "Warum habt Ihr mir denn solange nichts davon erzählt?" "Ihr habt mich nicht danach gefragt, Madonna! Aber ich gebe zu, daß ich das nicht bedauerlich fand. Ich wollte nichts unternehmen, bevor ich wußte, wie Euer Adoptivvater sich zu der Sache stellt, und nach dem ablehnenden Bescheid hatte ich es gar nicht mehr eilig. Schließlich hoffte ich ja, ihn doch noch umzustimmen, und habe es deshalb mit einem zweiten Brief versucht, sobald wir in Corvalla eingetroffen waren — leider ohne Erfolg." "Und warum erzählt Ihr es mir jetzt?" "Weil wir heute abend ins Theater gehen, Madonna. Ihr werdet Euch das neueste Erfolgsstück ansehen und anschließend den Autor und den vorgeblichen Komponisten kennenlernen. Das heißt, Evaristo Menardi werdet Ihr auf jeden Fall treffen. Ich habe inzwischen einen dritten Versuch unternommen und auch Euren Adoptivvater aufgefordert, sich einzufinden; aber verlaßt Euch lieber nicht darauf, daß er kommt." Natürlich kam Martin di Cabirezzo nicht ins Theater, und Catterina mußte sich damit begnügen, Evaristo Menardi nach ihm auszufragen. Es gehe ihm gut, wurde ihr bestätigt, nur sei er sehr anfällig für Erkältungen und entferne sich deshalb ungern weiter als ein paar Schritte von seinem Kaminfeuer. "In der Festung gibt es ein paar prächtige gemauerte Öfen, die besser wärmen als jeder Kamin," versetzte Catterina bissig. Der junge Mann gefiel ihr nicht. Ein verschüchtertes Wesen, das sie aus vorquellenden Augen schreckensvoll anstarrte, stand er mit hängenden Schultern in der permanenten Andeutung eines Bücklings da und wußte nicht, wo er seine Hände unterbringen sollte: das war der Mensch, der sie aus der Gunst ihres Adoptivvaters verdrängt hatte! Denn sie erklärte sich die Sachlage so, daß Martin di Cabirezzo angesichts dieser Elendsfigur seine Abneigung gegen Söhne überwunden hatte und demzufolge jetzt keine Tochter mehr benötigte. |
Zurück zum 21. Kapitel |
Zum Mittelstück Zum Seitenanfang |
Weiter zum Kapitelende |
TAURIS Roman von Pia Frauss 22. Zerreissende Netze/A |