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MITTE
TAURIS oder Catterinas Entjungferung
Ein ahistorischer Roman von Pia Frauss
 


Benedetto Barasti


(Auszug aus Kap. 12)


 
 
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Catterina hatte sich inzwischen auf das Ereignis besonnen, von dem Don Raffael sprach. Es war keineswegs alltäglich, daß in der Oberstadt von Valanta erdolchte Leichen vor den Haustüren herumlagen, und so hatten der Klatsch und der Magistrat sich gleichermaßen intensiv mit jenem unbekannten, schäbig gekleideten jungen Mann befaßt, der eines Morgens, kurz nach Neujahr, vor einem Haus unweit der Stadtmauer ermordet aufgefunden worden war. Allerdings hatte das Rätsel sich dem Anschein nach innerhalb von wenigen Tagen auf zufriedenstellende Weise gelöst, da sich ein Kaufmann aus Torlata bei den Behörden meldete und angab, auf dem Weg nach Valanta sei ihm ein Bediensteter entlaufen, unter Mitnahme eines größeren Geldbetrags, den er sich offenbar mit einem Nachschlüssel aus der Reisekasse seines Herrn besorgt hatte; das Fehlen dieser Summe sei jedoch erst in Valanta bemerkt worden, wo der Kaufmann anstehende Schulden bezahlen wollte. Dieser Kaufmann hatte den Ermordeten als seinen verschwundenen Diener identifiziert, und der Sekretär, der mit ihm reiste, hatte seine Aussagen bestätigt. Ein anfänglicher Verdacht, hier bemühe sich jemand auf Kosten des Ermordeten um Stundung seiner Schulden, wurde schnell dadurch entkräftet, daß der Kaufmann die fraglichen Schulden in voller Höhe zahlte, sobald er seinerseits Rückstände einkassiert hatte; zudem war dieser Kaufmann in Valanta gut bekannt und konnte eine Reihe von Zeugen nennen, die bereit waren, für seine Integrität zu bürgen.

Da man bei dem Toten nur einige Kupfermünzen gefunden hatte, nahm man zuletzt an, daß er einem Raubmord zum Opfer gefallen sei. Der ebenso höfliche wie sparsame Magistrat sprach dem Kaufmann vollstes Bedauern über den Verlust seines Geldes aus und wies ihn anschließend darauf hin, daß er als einziger Angehöriger für die Beerdigung des Toten aufkommen müsse. Dieses Ansinnen wurde naturgemäß mit Entrüstung und einer drastischen Verwünschung des Verstorbenen zurückgewiesen; endlich einigte man sich dahingehend, daß der Kaufmann die Leiche nach Torlata mitnehmen solle, um sie dort der Familie des Toten zu übergeben.

Die Investigatoren blieben in diesem Fall bemerkenswert erfolglos; sie verhafteten ohne ersichtlichen Grund einen Schmied aus der Unterstadt und gaben ihn wenige Tage später ebenso grundlos, aber mit einer ganz ungewöhnlichen öffentlichen Entschuldigung, wieder frei. Danach blieb dem Magistrat nur noch eines zu tun: zur Beruhigung der Bürgerschaft ließ er die Kontrollen an den Stadttoren verschärfen und die Nachtwachen verstärken, eine kostspielige Maßnahme, die man nicht gerne traf und ganz sachte bald wieder aufgab. Was aus der Leiche wurde, nachdem sie die Stadt verlassen hatte, kümmerte niemand, und niemand hatte daran gedacht, die Vorfälle in Horena mit dem Mord in Valanta in Verbindung zu bringen. Insgesamt war das Ereignis eine Komödie ganz nach Don Francescos Geschmack gewesen — und Don Francesco wäre vermutlich, wenn das Schicksal ihn nicht zum Fürsten von Orsino gemacht hätte, einer der besten Komödienautoren des Jahrhunderts geworden.

Catterina, die mit Don Francescos Talenten nicht genügend vertraut war, wunderte sich jetzt nur über die beträchtliche Diskrepanz zwischen der Wahrheit und der offiziellen Darstellung des Mordfalls, scheute sich jedoch, ihr Staunen zu zeigen; und so fragte sie betont gleichmütig: "Ihr habt also nie erfahren, wer dieser Mann war, und warum er Euch töten wollte?"

Don Raffael zögerte einen Augenblick. Schließlich lächelte er und sagte: "Da ich Euch schon von Don Philipps Übeltaten erzählt habe, kann ich Euch wohl auch das verraten. Dieser Mann hieß Benedetto Barasti und war der letzte männliche Nachkomme einer alteingesessenen Kaufmannsfamilie aus Horena. Ursprünglich war er allerdings nur ein jüngerer Sohn gewesen, den man, wie es üblich ist, ins Ausland schickte. Er hatte deshalb die Italienische Akademie in Horena besucht, bis sie im Jahr 1552 aufgelöst wurde. Zu diesem Zeitpunkt legte er ein verfrühtes, aber dennoch glänzendes Examen ab und verließ bald darauf, im Alter von neunzehn Jahren, das Land, um nach kurzer Einarbeitung die Handelsniederlassung seiner Familie in Genua zu leiten. Aber im Lauf der nächsten drei Jahre starben sowohl sein Vater als auch sein älterer Bruder. Eine verheiratete Schwester überlebte als einziges Familienmitglied, und ihr Gatte übernahm die Verwaltung des Geschäfts in Horena. Im März 1556 wurde dieser Schwager jedoch wegen einer Betrugsanklage gefangengesetzt, und Benedetto Barasti erhielt daraufhin die Erlaubnis zur Rückkehr. Unmittelbar nach seiner Ankunft mußte er feststellen, daß das Handelshaus seiner Eltern so gut wie bankrott und zudem unter der Leitung seines Schwagers nur deshalb noch kümmerlich über Wasser zu halten gewesen war, weil besagter Schwager die Schwester zur Prostitution gezwungen hatte. Nun müßt Ihr wissen, daß dies ein Notbehelf ist, zu dem in den letzten Jahren viele gutbürgerliche und hochangesehene Familien Horenas Zuflucht genommen haben. Das Ganze spielt sich natürlich nicht im Straßenstaub ab, sondern höchst diskret in luxuriös ausgestatteten Appartements, und gilt derzeit als Hauptattraktion und wichtigste Einnahmequelle Horenas. Wie groß der Zwang war, dem Barastis Schwester unterlag, weiß ich nicht; es steht aber fest, daß sie bei ihrer Tätigkeit genügend Talent entfaltete, um innerhalb eines Jahres eine der gefragtesten Damen Horenas zu werden; und unbestreitbar war sie eine der teuersten.

Benedetto Barasti, der sich auf dem Kontinent offenbar eine Menge kontinentaler Anschauungen angeeignet hatte, sah die Sache freilich keineswegs mit der Gelassenheit, mit der man sie inzwischen in Horena zu betrachten pflegt, und als seine Schwester gar mit dem Ansinnen an ihn herantrat, er möge hinfort die freigewordene Stelle ihres Beschützers übernehmen, versuchte er sie — es war am fünften Tag nach seiner Rückkehr — in einem Wutanfall zu erstechen. Er verletzte sie schwer mit mehreren Dolchstichen, bevor ihre Bediensteten ihn überwältigen konnten, und schäumte offenbar immer noch vor Wut, als er einige Stunden später dem Haftrichter vorgeführt wurde. In diesem Verhör gestand er nicht nur das begangene Verbrechen ohne Umschweife und unter ausführlicher Nennung der Gründe ein, sondern fügte dem bereits vorliegenden Tatbestand noch den der Beleidigung des Königshauses hinzu, indem er eine Reihe unflätiger Bemerkungen über meine Person äußerte, von denen sich keine einzige hier wörtlich wiedergeben läßt. Was er seiner Schwester am meisten verübelte, war allem Anschein nach, daß sie sich ihm gegenüber mit meiner Kundschaft gebrüstet hatte; und da er mich großzügig mit Don Francesco in einen Topf warf, behauptete er, sie habe gerade mit jenem Erzschurken Unzucht getrieben, dem ihre Schande ursächlich anzulasten sei.

Meiner Überzeugung nach sagte er damit genau das richtige, um das Mitgefühl des Magistrats von Horena zu wecken. Zwischen Orsino und Horena herrscht derzeit ein latenter Kriegszustand; und wenn Benedetto Barasti am Tag nach diesem ersten Verhör entfliehen konnte, so ist das wohl nur dadurch zu erklären, daß der Magistrat ihm zur Flucht verhalf. In dieser Ansicht bestärkt mich die Tatsache, daß Barasti sechs Wochen später in Corvalla auftauchte, mit gültigen Papieren, die auf den Namen Benedetto di San Addunyo lauteten — das ist eine Pfarrei am Rande von Horena —, und dort eine Anstellung als Schreiber in einer Glasmanufaktur erhielt.

Bis hierher bin ich gern bereit, ihm die Beiwörter ,rechtschaffen' und ,unglücklich' zuzugestehen; in der Folge scheint er jedoch dem Weingenuß in einem Übermaß gefrönt zu haben, das sich verheerend auf sein Denk- und Urteilsvermögen auswirkte. Er war in den meisten Weinschenken Corvallas ein wohlbekannter und schwerverschuldeter Gast, geriet mehrfach in Schlägereien und wurde endlich von den königlichen Investigatoren festgenommen unter der ausnahmsweise völlig glaubwürdigen Beschuldigung einer Beleidigung des Königshauses — wie glaubwürdig, zeigt schon der Umstand, daß als Zeugen durchwegs unbescholtene Bürger namhaft gemacht wurden, die weder vorher noch nachher jemals in einer ähnlichen Sache ausgesagt haben.

An dieser Stelle nun wird die Angelegenheit vollends merkwürdig. Das Verfahren gegen den vorgeblichen Benedetto di San Addunyo wurde vom Stadthauptmann mit einer Sondergenehmigung des Justizministers eilig niedergeschlagen, und Barasti wurde nach knapp dreiwöchiger Gefangenschaft auf freien Fuß gesetzt. Der Vorschrift entsprechend hätte er während dieser drei Wochen wenigstens zwei unterschiedlichen Haftrichtern vorgeführt werden müssen. Angeblich wegen Überlastung des Gerichts fand nur eine einzige solche Anhörung statt; und das Protokoll gerade dieser Vernehmung ist heute spurlos verschwunden!

Aber es kommt noch eigenartiger. Bald nach seiner Freilassung, zu Weihnachten, lief Barastis provisorischer Arbeitsvertrag aus, und Barasti wechselte bei diesem Anlaß den Dienstherrn: er nahm zwar neuerdings einen Posten als Schreiber an, diesmal jedoch in der Kanzlei des Stadthauptmanns. Gleichzeitig verließ er seine bisherige Bleibe und wohnte von da an in einem zum Hauptmannspalazzo gehörigen Dienerschaftsgebäude, das heißt, in einem Raum, der dem Kammerdiener des Stadthauptmanns zur Weitervermietung überlassen worden war. Der betreffende Kammerdiener scheint überhaupt Barastis einziger vertrauter Umgang in Corvalla gewesen zu sein; die beiden zogen bei jeder sich bietenden Gelegenheit gemeinsam durch die Weinschenken, Barasti nahm seine Mahlzeiten häufig mit der Familie des Kammerdieners ein, und böse Zungen behaupten sogar, er habe ein Verhältnis mit dessen Frau gehabt. Damit nicht genug: etwa zur Zeit seines Wohnungswechsels bezahlte Barasti auch alle angesammelten Schulden, und obwohl er danach eher noch mehr Wein trank als zuvor, hatte er doch stets genügend Geld, um seine Zeche Abend für Abend bar zu begleichen. Wenige Tage, bevor er mich überfiel, verschwand er ohne Vorankündigung aus Corvalla. Es sind in erster Linie die Schankwirte, bei denen er zuletzt als guter Kunde galt, die ihm ein ehrendes Gedenken bewahren; sie erinnern sich auch allesamt daran, daß er in den Monaten vor seinem Verschwinden jeden zweiten Becher Wein auf die Gesundheit des Stadthauptmanns zu leeren pflegte. Und nun, Liebste, macht Euch einen Reim auf die Geschichte."


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TAURIS
Roman von Pia Frauss
12. Ganymed M