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KAPITEL ANFANG |
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9 Alvisia |
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Der Passagier- und Güterverkehr zwischen Valanta und der Hauptstadt wurde vorwiegend auf der Zaronta abgewickelt. Es war die beherrschende, äußerst verkehrsgünstige Lage an diesem Fluß, die Valanta schon vor der Jahrtausendwende zum Hauptumschlagplatz von Waren gemacht hatte. Zwischen Atthagra und Valanta war der Fluß tief und breit genug, um selbst größere Schiffe zu tragen. Er trocknete im Sommer niemals aus, führte im Frühling nicht allzu häufig reißendes Hochwasser und fror im Winter selten zu. Der Transport zu Schiff war zudem sicherer, bequemer, schneller und kaum teurer als zu Land; aber auch Reisende ohne Gepäck zogen das Schiff gern den je nach Wetterlage staubigen oder schlammigen Wegen vor. Flußabwärts, von Atthagra nach Valanta, ließ die Strecke sich im Sommer an einem einzigen Tag bewältigen; wenn die Tage kürzer wurden, mußte man sie freilich in zwei Etappen aufteilen. Da das Gefälle der Zaronta in diesem Abschnitt gering und der Einsatz von Rudern auf der ganzen Strecke möglich war, dauerte die Reise auch in der Gegenrichtung nicht allzu lang; sommers wie winters genügten dafür drei Tage. Die aus Atthagra angereisten Hochzeitsgäste hatten Valanta am selben Morgen wie der Fürst, aber vor ihm, verlassen, und waren auf die übliche Weise — in drei Tagesetappen — in die Hauptstadt zurückgekehrt. Ein solcher Bruch der Etikette ließ sich mit der Krankheit des Fürsten begründen, die ihn zwang, seine Reise in kürzere Etappen aufzuteilen, so daß er insgesamt viereinhalb Tage dafür benötigte; und die Landstädtchen, in denen er deshalb Quartier nehmen mußte, waren nicht darauf eingerichtet, eine größere Anzahl vornehmer Gäste zu beherbergen. Sechs Jahre zuvor hatte Catterina diese Flußreise bereits einmal in der umgekehrten Richtung gemacht. Sie erinnerte sich nur undeutlich daran. Es war noch später im Herbst, fast schon im Winter, und folglich eine Fahrt durch Nebel und Regen gewesen; das Flußtal war unter einer niedrig dahinziehenden Wolkendecke fast erstickt, und auf der einzigen Station der Reise hatte das Schiff bei einbrechender Dunkelheit angelegt und war sofort abgefahren, als der Morgennebel sich zu lichten begann. Danach hatte Catterina das Haus ihrer Tante in Valanta nur verlassen, um zur Kirche zu gehen, ihre Verwandten in der Nachbarpfarrei zu besuchen oder sich auf eine Abendgesellschaft zu begeben. Sie hatte auf diese Weise tatsächlich das Leben einer Gefangenen geführt; und so war es kein Wunder, daß sie ungeachtet aller Ängste, Unsicherheiten, Unbequemlichkeiten und widerwärtigen Zwischenfälle diese Reise nach Atthagra von Anfang an weit mehr genoß, als sie erwartet hatte. Sie war zwar auch jetzt nicht Herrin ihrer selbst und unterlag allen möglichen Zwängen. Aber im Vergleich mit der Situation, in der sie die Reise sechs Jahre zuvor gemacht hatte, stellte ihre jetzige doch eine entscheidende Verbesserung dar; und Catterina war nicht undankbar genug, um sich auf Dauer gegen diese Einsicht zu wehren. Ihre Verdrossenheit verlor sich; sie begegnete all dem Neuen, das sie während der Reise zu Gesicht bekam, mit aufrichtigem Interesse, und wäre am liebsten den ganzen Tag am Geländer gestanden, um möglichst keine Einzelheit zu versäumen. Und schon bevor sie in Rocca dei Marulani Station machten, erwarb Don Raffael sich ein Anrecht auf ihre Dankbarkeit, indem er sich mehrfach die Mühe machte, sie wirklich ans Geländer zu führen, wo er ihr die Namen der vorüberziehenden Ortschaften und Festungen nannte und mitunter sogar etwas über deren Geschichte erzählte. Seine Kenntnisse auf diesem Gebiet waren umfassend, und er erzählte sehr unterhaltsam, mit einem dezenten Unterton von Ironie, der Catterina selbst dann gefiel, wenn mangelnder Einblick in die Zusammenhänge ihr verwehrte zu entdecken, worauf diese Ironie sich bezog. Da der Fürst während der Fahrt entweder mit seinen Sekretären Geschäftsangelegenheiten erörterte oder erschöpft vor sich hindöste, hatte Don Raffael viel Zeit, sich mit Catterina zu befassen. Sein Einfallsreichtum ließ ihn nie im Stich, wenn es darum ging, Gesprächsthemen zu finden, über die man sich vor Zeugen unterhalten konnte. Häufig sprach er mit ihr über Musik, das einzige Thema, zu dem Catterina mindestens ebensoviel zu sagen hatte wie er, und bei dem sie meist sogar die Rollen tauschten: hier war es Catterina, die Don Raffael belehrte, statt wie sonst umgekehrt. Da er sie frühzeitig darauf hingewiesen hatte, daß es nicht ratsam sei, in der Öffentlichkeit abfällige Urteile über namentlich genannte Musiker abzugeben, und da Catterina auf solche Urteile dennoch nicht verzichten wollte, erfand sie bald ein kleines Spiel: sie sang Don Raffael solange Themen aus dem Werk des betreffenden Musikers vor, bis er diesen zu erkennen glaubte. Er nannte dann den dritten und vierten Buchstaben aus dem Taufnamen des Musikers, und Catterina bestätigte oder verneinte seine Vermutung. Die Tatsache, daß er meist sehr schnell und selten falsch riet, ließ Don Raffael in Catterinas Achtung beträchtlich steigen. Sie hatte auch sonst viel Freude an diesem Spiel und wurde dabei zusehends lebhafter und fröhlicher. Es brachte sie mehr als einmal zum Lachen und noch öfter zum Lächeln; wenn der Gegenstand sie besonders fesselte, begannen ihre Augen zu leuchten, und sie vergaß ihre Steifheit so sehr, daß sie sich sogar dazu hinreißen ließ, ihre Rede durch Gesten zu unterstreichen. In solchen Momenten hatte sie keine Ähnlichkeit mehr mit der ungnädigen Königin, die Don Raffael anfangs in ihr erblickt hatte, und er stellte überrascht fest, daß sie ihm plötzlich anziehend erschien. Im Lauf der Reise lernte Catterina die kleinen Städte San Tedice, Ubaldiano, Rocca dei Marulani und Alvisia kennen, wo der Fürst jeweils übernachtete. Keines dieser Städtchen war wirklich arm oder hätte sich selbst so genannt; und doch führten sie Catterina allesamt in überwältigender Weise den Reichtum Valantas vor Augen. In Valanta, zumindest in der Oberstadt, waren fast alle Straßen gepflastert, und die meisten Häuser bestanden den städtischen Bauvorschriften gemäß aus Stein. Nur in wenigen Stadtteilen war die Errichtung von Fachwerkhäusern gestattet, und selbst deren Holzanteil war seit langem rigoros eingeschränkt. In manchen Stadtgegenden war es zudem Pflicht, die Häuser mit besonders schönen Fassaden auszustatten: einer bestimmten Länge der Hausfront mußte in den Obergeschossen eine bestimmte Anzahl maßwerkverzierter Loggiabögen entsprechen, das Erdgeschoß mußte eine Kolonnade aufweisen, unter der Verkaufsstände aufgestellt werden konnten, und in den vornehmsten Wohnstraßen gab es sogar die Auflage, die Fassade mit Fresken zu schmücken. Des Nachts brannten unter den Arkaden oder vor den Hauseingängen Nachtlichter, die nur bei besonders starkem Wind gelöscht werden durften. Dieser behördlich verordnete Aufwand hatte zwar ein Überhandnehmen der Immobilienspekulation zur Folge gehabt und einen Teil der ärmeren Bevölkerung gezwungen, sich in die Unterstadt zurückzuziehen, wo das Errichten von Holzhäusern weiterhin gestattet blieb. Andererseits war die Gefahr einer Feuersbrunst in der wasserarmen Oberstadt auf das Mindestmaß reduziert worden, eine beispiellose Blüte des Bauhandwerks und der bildenden Künste hatte Valanta zur schönsten Stadt des Landes gemacht, deren Architekten und Freskenmaler seit Jahrhunderten als unübertrefflich galten, und der Exodus der ärmeren Einwohner hatte auf dem beschränkten Raum innerhalb der Stadtmauern Platz geschaffen für neue öffentliche und private Prachtbauten. |
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TAURIS Roman von Pia Frauss 9. Alvisia/A |