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TAURIS oder Catterinas Entjungferung
Ein ahistorischer Roman von Pia Frauss
 

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Im Anschluß an die Nacht des Hochzeitsballs blieb der Fürst von Orsino — und mit ihm die gesamte höfische Hochzeitsgesellschaft — noch drei Tage in Valanta, bevor er am 19. Oktober nach Atthagra aufbrach. Während dieser Zeit wurde in etwas bescheidenerem Rahmen weitergefeiert. Bankette, Kampfspiele, Konzerte und eine Theateraufführung folgten in raschem Wechsel aufeinander, und Catterina, der ein so turbulentes Leben neu war, fand dabei nur noch selten Zeit zum Nachdenken. Auch zu einer ernsthaften Aussprache mit Don Raffael ergab sich kaum mehr eine Gelegenheit. Entgegen seiner Ankündigung schien er beim Schlafengehen in der Regel zu müde für ein Gespräch; Catterina aber hütete sich, ihrerseits eines zu beginnen. Schon am Morgen nach dem Ball hatte sie beschlossen, daß sie vorerst keine weitere Auseinandersetzung mit ihm suchen würde. Alle berechtigten Vorwürfe, die sie ihm machen konnte, änderten nichts mehr daran, daß sie jetzt auf seine Hilfe angewiesen war. Und es wäre — so dachte Catterina — äußerst unklug gewesen, sich von Anfang an jeglichen Rückhalt zu rauben und sich alle Unannehmlichkeiten, die diese Heirat zur Folge haben mußte, zu gleicher Zeit aufzubürden.

In diesen Tagen lernte sie auch, frühzeitig am Vormittag von dem befremdlichen Gefühl geweckt zu werden, das ihr ein nackter Männerarm verursachte, der quer über ihrer Brust lag. Es wurde ihr nicht so vertraut, daß sie nicht jedesmal davon aufgewacht wäre, erschreckte sie aber doch von Mal zu Mal weniger. Am Morgen nach dem Ball freilich war sie einige Atemzüge lang fast gelähmt vor Angst gewesen und hatte nur allmählich begriffen, daß der Mann, der dicht neben ihr auf dem Bauch lag, ganz ruhig schlief. Sobald Don Raffael aufwachte, pflegte er seinen Arm eilig zurückzuziehen und sich zu entschuldigen. Dennoch wiederholte der Vorgang sich jeden Morgen, und beim viertenmal fand Catterina sich endlich damit ab, daß es eine unkurierbare Gewohnheit von Don Raffael war, im Schlaf nach der Person zu greifen, die das Bett mit ihm teilte.

Dieses unfreiwillige Erwachen bildete Catterinas einzige Gelegenheit, halbwegs ungestört nachzudenken. Sie lag dann stets reglos da, kämpfte gegen die Versuchung an, das lästige Gewicht auf ihrer Brust abzuschütteln, und atmete behutsam, um Don Raffael nicht zu wecken; und obwohl ihre Grübeleien insgesamt unergiebig blieben, vermochte sie doch schon am ersten Morgen annähernd zu begreifen, warum Don Raffael ihr soviel Angst einflößte: was sollte sie wohl sonst empfinden, wenn sie als unbedarfte Bürgerstochter einen Mann heiraten mußte, für dessen Gesundheit und Wohlergehen sie zuvor jahrelang, Sonntag für Sonntag, in der Messe gebetet hatte?

In allen Kirchen des Landes war es Brauch, beim sonntäglichen Gottesdienst die Königsfamilie ins Gebet einzuschließen. Der überaus staatstreue Pfarrherr von San Stefano hatte diese Fürbitten immer sehr ausführlich gestaltet und jeden männlichen Familiensproß einzeln genannt: "Herr im Himmel, beschütze und erhalte unseren allergnädigsten König Clemens Felizio!" — "Beschütze ihn." — "Beschütze Don Francesco!" — "Beschütze ihn." — "Beschütze Don Philipp!" — "Beschütze ihn." — "Beschütze Don Raffael!" — "Beschütze ihn!" Tonfall und Lautstärke des Gemeindeechos waren ein untrüglicher Gradmesser für die Beliebtheit der Genannten; was einigermaßen gleichgültig klang, solange es den König und seinen Enkel betraf, was sich nach der Nennung des Fürsten von Orsino mehr als lustlos anhörte, war, zumindest während der vergangenen drei Jahre, mit Vehemenz und Begeisterung ausgerufen worden, sobald es sich auf Don Raffael bezog: "Beschütze ihn!"

Catterina freilich hatte zwischen den einzelnen Namen niemals Unterschiede gemacht. Sie hatte sich an diesen Fürbitten meist mechanisch und geistesabwesend beteiligt; sooft ihr aber bewußt wurde, wofür sie da eigentlich betete, hatte sie das Gebet in Gedanken widerrufen und erbittert hinzugesetzt: "Sie sind ungerecht und undankbar, und keiner von ihnen verdient, daß Gott ihn beschützt!"

Das Schicksal ihres Adoptivvaters hatte bei Catterina einen begreiflichen Groll gegen den König ausgelöst. Natürlich zweifelte sie niemals an der völligen Unschuld Martin di Cabirezzos; und obwohl sie die Vorgänge, die zu seiner Verhaftung geführt hatten, nicht im mindesten durchschaute, stand es doch für sie fest, daß dieses Unglück ohne die Zustimmung des Königs keinesfalls hätte geschehen können. Das Verhängnis hatte deshalb in ihren Augen frühzeitig die Gestalt eines Willküraktes angenommen, der die Unzuverlässigkeit und Bedrohlichkeit der königlichen Gunst überzeugend bewies. Seither hatte sie oft und nie anders als mit Zorn und Verachtung an den König gedacht und diese Gefühle auf alle Mitglieder seiner Familie ausgedehnt. Sie hatte Martin di Cabirezzo stets als einen treuen Diener seines durchlauchtigsten Brotherrn gekannt und erinnerte sich noch nach acht Jahren deutlich an die dankerfüllte, fast religiöse Ehrfurcht, die er dem gesamten Königshaus entgegengebracht und auch ihr selbst mit großer Sorgfalt anerzogen hatte. Die Aufrichtigkeit dieser Gesinnung stand außer Zweifel, und Catterina hielt es schon deshalb für unverzeihlich, daß der König einen so ergebenen Diener bedenkenlos fallengelassen hatte.

Erst am Morgen nach dem Ball begriff Catterina — und es war keine angenehme Einsicht —, daß die Erziehung, die ihr Adoptivvater ihr hatte angedeihen lassen, sich gegen alle Widrigkeiten des Schicksals zu behaupten vermochte: verstärkt durch die sonntäglichen Gebetsübungen, war zumindest die anbetende Verehrung der Königsfamilie, die er ihr durch sein Beispiel vermittelt hatte, so tief in ihr verwurzelt, daß selbst ihr Zorn sie nicht ins Wanken bringen konnte. Nach wie vor hielt sie alle Träger des Namens Roccaferrata für eine Art von überirdischen Wesen, deren bloße Erwähnung einen unterwürfigen Schauder hervorrief, und die mit gewöhnlichen Sterblichen kaum etwas gemein hatten.

An diesem Punkt ihrer Überlegungen betrachtete Catterina den schlafenden Don Raffael, der ihr das Gesicht zuwandte, und fand ihren ersten Eindruck bestätigt, daß zumindest an seiner äußeren Erscheinung nichts überirdisch war. Seine vielgepriesene Schönheit bestand lediglich in der Abwesenheit allzu auffälliger Schönheitsfehler. Aber seine Stirn war eindeutig zu niedrig, das Kinn reichlich spitz und das ganze Gesicht zu schmal, um Anspruch auf Vollkommenheit erheben zu können...!

Selbst eine so abschätzige Kritik jedoch konnte den unerfreulichen Zwiespalt in Catterinas Gefühlen nicht beheben und ernüchterte sie ebensowenig wie die Tatsache, daß sie nun bereits in zwei Nächten nackt neben Don Raffaels nacktem Körper geschlafen hatte: sie war noch immer nicht fähig, etwas anderes als einen Halbgott in ihm zu erblicken — einen, dem sie mißtraute, gegen den sie sich hilflos auflehnte, aber unzweifelhaft einen Halbgott; und er selbst hatte diesen Glauben durch ein Verhalten gefördert, welches keineswegs das eines gewöhnlichen Sterblichen war.


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TAURIS
Roman von Pia Frauss
7. Gefechte/A